Der Schweizer Osteuropa-Historiker Andreas Kappeler ist einer der besten Kenner des Verhältnisses zwischen der Ukraine und Russland. Putins Äusserungen zur Historie würden Widerspruch geradezu herausfordern, sagt der Geschichtsforscher, der schon mehrere Sachbücher zum Thema verfasst hat. Er ordnet vier Behauptungen Putins zur Ukraine ein.
Behauptung 1: Eine ukrainische Nation gibt es nicht
Diese Meinung gehört zu Putins Standard-Argumentarium, um die Invasion der Ukraine zu rechtfertigen. Klar ist: Die Ukraine ist als souveräner Nationalstaat erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 entstanden. Zuvor unterstand die Ukraine fast immer fremden Grossmächten.
Dass es deswegen eine ukrainische Nation nicht gebe, sei aber «schlicht falsch», sagt Andreas Kappeler. «Ein Volk wird nicht erst durch ein Territorium zur Nation.» Entscheidender sei, dass sich eine Grossgruppe von Menschen «subjektiv zu einer Nation bekennt».
Laut dem Osteuropa-Historiker begann sich in der Ukraine dieses Nationalgefühl ab dem 17. Jahrhundert herauszubilden – mit der Entwicklung der ukrainischen Schriftsprache und Literatur oder mit der Hinwendung zum Westen.
Als die Ukraine 1991 unabhängig wurde, erhielt die schon lange bestehende Nation endlich ihr eigenes Territorium. Dieses verteidigen die Ukrainer nun «als nationale Solidargemeinschaft gegen die russischen Invasoren», sagt Andreas Kappeler.
Behauptung 2: Russen und Ukrainer gehören historisch zusammen
Um diese Vorstellung zu belegen, holt Wladimir Putin weit aus: bis ins Mittelalter zur Kiewer Rus. So hiess das Riesenreich, das sich einst von der Ostsee bis fast zum Schwarzen Meer erstreckte und Weissrussen, Russen und Ukrainer vereinte.
Im 13. Jahrhundert, vor knapp 800 Jahren, war aufgrund des Einfalls der Mongolen-Tataren mit der Kiewer Rus Schluss. Russen und Ukrainer gingen fortan staatlich getrennte Wege.
Im Norden bildete sich das russische Zarenreich. Und die Ukraine im Süden gelangte für lange Zeit unter die Herrschaft des Königreichs Polen-Litauen. Erst zwischen 1650 und 1800 kamen die meisten Teile der Ukraine schliesslich zu Russland.
«Dass Russen und Ukrainer so lange in verschiedenen Staaten lebten, beförderte das ukrainische Nationalbewusstsein», sagt Andreas Kappeler. Dennoch seien die beiden Völker kulturell, politisch und ökonomisch eng verbunden. Den Zerfall der Sowjetunion habe der «grosse Bruder» als Trauma erlebt und es nie überwunden, dass der «Kleine» die Familie damals verlassen habe.
Behauptung 3: Die Ukraine vollführte im Donbass einen Genozid
Wladimir Putin versuche auf diese Weise den Angriffskrieg als Operation zum Schutz der russischsprachigen Bevölkerung zu tarnen, sagt Andreas Kappeler: «Das ist reine Demagogie.»
Der Krieg im Donbass ab 2014 zwischen der Ukraine und den von Russland unterstützten prorussischen Separatisten habe einen grässlichen Blutzoll gefordert. Das Geschehen jedoch als Genozid der Ukrainer an der russischsprachigen Bevölkerung zu bezeichnen, sei «blanker Hohn» im Vergleich zu den Genoziden des 20. Jahrhunderts.
Wahr sei, dass der ukrainische Staat nach 1991 das Ukrainische gesetzlich gefördert habe, weil die neue Nationalsprache nach Jahrzehnten sowjetischer Russifizierung «machtlos geworden» sei, sagt Andreas Kappeler.
Es sei nicht darum gegangen, «das Russische auszulöschen, wie Putin sagt». Tatsächlich funktionierte die Zweisprachigkeit in der Ukraine bis zum Krieg ohne grössere Probleme.
Behauptung 4: In Kiew regieren Nazis
Das sei «unstatthaft und reine Propaganda», sagt Andreas Kappeler. Fakt ist: Der 2018 demokratisch gewählte ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski ist selbst jüdischer Herkunft. Er verlor mehrere Familienmitglieder im Holocaust. Zudem gebe es in der Ukraine heute «praktisch keinen Antisemitismus».
Der Ukraine eine historisch bedingte spezielle Affinität zum Faschismus zu unterstellen, sei laut dem Historiker «völlig verfehlt». Der Grossteil der Bevölkerung kämpfte während des Weltkriegs gegen Hitler. Es kollaborierten allerdings einzelne Teile mit den Besatzern und beteiligten sich am Judenmord.
Vergleichbares spielte sich in den baltischen Staaten ab. Und selbst Russen machten gemeinsame Sache mit der Wehrmacht. «Es gab nazistische Ukrainer», sagt Andreas Kappeler, «aber dieses schwarze Bild auf die Gegenwart zu übertragen und dadurch die jetzige Regierung zu Nazis zu machen, ist reine Propaganda.»