SRF: Das Phänomen Donald Trump verleitete einige dazu, das «postfaktische Zeitalter» auszurufen. Seine Beraterin sprach gar von «alternativen Fakten». Sind uns die Fakten abhandengekommen?
Philipp Hübl: Wir leben nicht im postfaktischen Zeitalter, sondern immer noch im Zeitalter der Aufklärung. Schon wer in den Urlaub fliegt, vertraut auf die Technik. Technik basiert auf Wissenschaft und Wissenschaft ist systematische Wahrheitssuche. Selbst wer «Lügenpresse» ruft, glaubt, dass die Fussballergebnisse in der Zeitung wahr sind.
Nur dort, wo es um Moral und Politik geht, ordnen einige Menschen wie Trump die Wahrheit ihrer Agenda unter, nach dem Schema: «Zuerst die Ideologie, dann die Fakten.»
Gerüchte verbreiten sich in sozialen Netzwerken genauso schnell wie Tatsachenbehauptungen.
In Zeiten von «Fake News» hat die Wahrheit einen schweren Stand. Gestaltet sich die Suche nach ihr heute schwieriger als früher?
Die Produzenten und Verbreiter von Fake News können auf das setzen, was ich «Entropie der Lüge» nenne: Gerade in sozialen Netzen ist der Aufwand, mit Unwahrheiten Schaden anzurichten und für Unordnung zu sorgen, verhältnismässig gering.
Gerüchte und Verschwörungstheorien verbreiten sich dort genauso schnell wie Tatsachenbehauptungen. Der Aufwand, diesen Schaden zu beseitigen, ist dagegen überproportional hoch: Mit einer Gegendarstellung erreicht man nicht alle Getäuschten und selten stimmt man die Leute um.
Friedrich Nietzsche meinte einmal, «Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind». Ist das Wahre also einfach das, was wir für wahr halten?
Nietzsche war in vielen Dingen hellsichtig, seine Einlassungen zur Wahrheit und Sprachtheorie sind jedoch eine Enttäuschung. Auch wenn sie die Kulturtheorie bis heute beeinflussen. Unter anderem verwechselt er Wahrheit und Wissen. Entweder ist die Aussage «3+5=8» wahr oder sie ist falsch.
Wahrheiten verschwinden nicht, nur weil wir nicht wissen, ob es welche sind. Wahrheit und Für-Wahr-Halten sind schlicht nicht dasselbe. Man muss schon sehr egozentrisch sein zu glauben, Wahrheit hänge von der eigenen Anschauung ab.
Gewisse Philosophen meinen, unsere wissenschaftlichen Modelle über die Welt müssten bloss mit den Beobachtungen übereinstimmen. Ob sie auch mit der Welt, wie sie «wirklich» ist, übereinstimmen, könne man nämlich niemals wissen.
Die Rede von «können wir niemals wissen» macht den Wissensbegriff zu anspruchsvoll, indem sie «Wissen» mit «Unfehlbarkeit» gleichsetzt. Das ist ähnlich witzlos, wie zu sagen: Niemand kann einen Punkt an die Wand malen, weil der mathematisch gesehen ausdehnungslos ist. Und überhaupt: Woher wollen die Leute sicher wissen, dass wir niemals etwas sicher wissen können?
Einiges, was uns nützt, ist nicht wahr. Man denke an positive Selbsttäuschung.
Brauchen wir die Idee der Wahrheit überhaupt? Reicht es nicht, wenn wir mit unseren Vorstellungen über die Welt gut durchs Leben kommen – egal, ob sie wahr oder falsch sind?
Der US-amerikanische Philosoph William James meinte sogar, das sei der Kern des Wahrheitsbegriffs: Wahr sei, was langfristig funktioniere. Weil es James um die Nützlichkeit im Leben ging, nennt man diese Theorie «Pragmatische Wahrheitstheorie».
Das Problem daran ist: Einiges, was uns nützt, ist nicht wahr. Man denke an positive Selbsttäuschung. Ausserdem hängt Nützlichkeit langfristig von Wahrheit ab. Wir kommen deshalb so gut durchs Leben, weil wir grösstenteils wahre Überzeugungen haben: über tiefe Abgründe und heisse Herdplatten etwa.
Das Gespräch führte Yves Bossart.
Sendung: SRF 1, Sternstunde Philosophie, 26.11.17, 11.00 Uhr