Die Wände sind dunkelrot, dicht behängt mit Polaroids, Zeichnungen, Andenken: Betritt man Susi Wyss‘ Wohnung in Paris, wähnt man sich in einer Höhle. Susi Wyss empfängt mich vom Sofa aus.
Sie hat Hunger, wir fahren in die Brasserie Zeyer. Susi Wyss wird überschwänglich empfangen, man kennt sie hier. Susi Wyss liebt gutes Essen. «Le cochonnet», das Schweinchen, nennen sie ihre Freunde. Später verstehe ich warum.
Ab nach Paris
Susi Wyss wird 1938 in Zürich geboren, als ältestes von vier Kindern. Mutter und Vater arbeiten viel und hart, um den Kindern ein liebevolles und für die Zeit ungewöhnlich offenes Elternhaus zu bieten.
Trotzdem sehnt sich Susi schon als junges Mädchen nach einem anderen Leben. Sie verliebt sich in Heiri, einen Grafiker. «Der schönste Mann Zürichs», sagt sie.
Aber wo kann man in Zürich ungestört Sex haben? Als unverheiratetes Paar bekommt man nicht einmal ein Hotelzimmer. Also düst das Paar mit dem Auto nach Paris.
Als Heiri in Südafrika einen Job findet, zieht es auch Susi dorthin. Sie heiraten. Doch das weisse Südafrika ist eine Enttäuschung. «Noch engstirniger als die Schweiz», bemerkt Susi. Heiri arbeitet, Susi langweilt sich.
Die Entdeckung der Klitoris
Dann lernt sie Frida kennen, eine lesbische, schwedische Künstlerin. Sie ist in Susi verliebt. Irgendwann küssen sich die beiden. Es fühlt sich gut an. Doch eine Beziehung zu einer Frau ist für Susi keine Option.
Eines Tages zeigt ihr Frida, wo die Klitoris sitzt. «Da unten hatte ich mich doch nie angefasst», erinnert sich Susi Wyss. Sie ist elektrisiert.
In der Brasserie Zeyer steht der Hauptgang auf dem Tisch. Susi isst die Nierchen mit grossem Genuss. Als ich mein Kalbskotelett nicht abnage, schnappt sie sich den Knochen und zieht mit den Zähnen das Fett ab.
Hier ist es also, das Schweinchen.
Plötzlich frei
Susi und Heiri zieht es zurück nach Paris. Durch ein befreundetes Paar erhalten sie Zugang zu Jetset-Kreisen. Es sind die frühen 1960er-Jahre, die 68er-Revolution liegt in der Luft. Auch Susi Wyss will raus aus dem bürgerlichen Mief.
Die Ehe scheitert, Heiri hat eine Affäre mit dem Kindermädchen. Susi bleibt mit dem gemeinsamen Sohn in Paris. Sie hat wenig Geld, aber sie ist lustig, hübsch und sie kocht gut. Ihre Dinnerpartys sind rasch legendär. David Bowie, Iggy Pop, Karl Lagerfeld und der Illustrator Antonio Lopez gehören zum Freundeskreis.
Partys, Sex und Drogen
Helmut Newton und seine Frau June alias Alice Springs fotografieren Susi. Ebenso Robert Mapplethorpe, der Freund von Patti Smith. Gage bekommt die junge, alleinerziehende Mutter selten.
Auch Salvador Dalí malt Susi. Jeden Sommer ist sie eingeladen nach Cadaqués zu Dalí und seiner Frau Gala. «Man musste nie allein nach Hause», kommentiert Susi dieses Leben.
Eine Bemerkung, die so tönt, als sei da auch viel Einsamkeit gewesen. Doch davon will Susi nichts wissen: «Ich hatte ein wunderschönes Leben.»
Auch sonst lässt sie wenig aus. Sie bekommt eine kleine Rolle in einem Film mit Alain Delon. Sie feiert Partys, sie nimmt Drogen, sie schläft mit Männern und Frauen. Ihr sexueller Hunger ist riesig.
«Du solltest ‹hüürle›»
Als ihr ein Freund rät: «Du solltest ‹hüürle›, du bist ja so sexy», verpasst sie ihm eine Ohrfeige. Doch irgendwann denkt sie «Warum auch nicht?» und startet mit 35 Jahren eine Karriere als Teilzeit-Callgirl.
Durchaus möglich, dass das in Susi Wyss‘ Wahrnehmung damals sogar ein Akt der Selbstbestimmung ist. Ihr Freundeskreis besteht aus Menschen, die über Geld nicht nachzudenken brauchen, weil sie genug haben. Da will sie mithalten.
Die junge Frau kann sich nun für sich und ihren Sohn mit dem Zusatzeinkommen Urlaubsreisen und ein wenig Luxus leisten. Aus heutiger Sicht ist es ein Unterwerfungsakt in einem patriarchalen System. Fünf Jahre später beendet sie ihre Karriere als Callgirl – von heute auf morgen.
Keine Lust mehr auf Sex
Und wie steht es heute mit dem Sex in ihrem Leben? «Meine Hormone sind weggeflogen», sagt Susi. Seit rund 10 Jahren hat sie keinen Sex mehr. Sie findet ihren Körper nicht mehr schön genug.
Sex-Abstinenz aus Eitelkeit? «Ich habe keine Lust mehr», wehrt sie ab. «Ich habe doch genug gearbeitet in der Hinsicht.» Interessant, dass sie die Zeit als «Arbeit» bezeichnet, womöglich hat sie die Lust doch nicht so sehr genossen?
Sie bereue nichts, beteuert Susi Wyss. Sie habe ein glückliches Leben gehabt.
«#metoo-Frauen sind Verräterinnen»
Wir fahren zurück in ihre Wohnung. Susi dreht sich einen Joint. Wir sitzen um den Salontisch, der mit Mitbringseln von Freunden dekoriert ist. Alles ist voller Penisse – als Kerze, als Salzstreuer, als Teekanne.
Wie denkt Susi Wyss darüber, dass sich momentan überall auf der Welt Frauen zur Wehr setzen gegen den Missbrauch durch Männer, die ihre Macht seit Jahrzehnten benutzten, um andere herabzusetzen oder um sexuelle Leistungen zu erhalten?
Susi Wyss wird vehement. «Diese Frauen sind für mich Verräterinnen. Die sind den ‹grusigen› Typen doch nachgelaufen, um eine Rolle zu kriegen. Und 20 Jahre später verklagen sie die? Ich finde das entsetzlich.»
Die Freiheit, die sie meint
Eine pointierte Meinung, die sich durchaus mit dem Aufruf der Französinnen zur #metoo-Debatte deckt.
Erst später wird mir klar: Frauen wie Susi haben dieses männliche Machtsystem jahrzehntelang gestützt. Indem sie davon profitierten, bestärkten sie es auch.
Für Susi Wyss ging das Konzept womöglich auf. Sie erlebte eine fast grenzenlos anmutende sexuelle Freiheit, in einer Zeit, wo die sexuelle Freiheit erst noch erfunden werden musste.
Doch diese Freiheit war eine vermeintliche aus heutiger Sicht. Sie war einzig von Männern geprägt. Und von einer Zeit, die voller Konventionen und Regeln war. Es galt, Grenzen zu überwinden. Im 21. Jahrhundert haben Frauen alle Freiheiten. Auch die Freiheit, Nein zu sagen.
Ob das für Susi Wyss eine Option gewesen wäre?