Die Philosophie der islamischen Welt beginnt im 9. Jahrhundert. Zu dieser Zeit breitet sich die islamische Gesellschaft in neu eroberten Gebieten aus und kommt mit anderen Kulturen in Berührung. Fast das gesamte Wissen der griechischen Antike wird ins Arabische übersetzt, sei es in Medizin, Mathematik, Astronomie, Mechanik, Musiktheorie oder Philosophie.
Diese Übersetzungsbewegung dauert knapp zweihundert Jahre und hat ihr Zentrum in Bagdad. Die Philosophen orientieren sich zunächst stark – ähnlich wie im europäischen Mittelalter – an antiken Autoritäten wie Aristoteles und versuchen das Verhältnis von Glaube und Vernunft immer wieder neu zu bestimmen.
Wichtige Philosophen der islamischen Welt
Abû Yûsuf al-Kindî (ca. 800-865)
Philosophie als Dienerin der Religion: Der Universalgelehrte Kindî war nicht nur Philosoph, sondern auch Astronom, Mediziner und Mathematiker. Er prägte die philosophische Terminologie im Arabischen und stützte sich in seinen Thesen ebenso auf Aristoteles wie auf Platon und den Neuplatoniker Proklos. Die Philosophie steht für Kindî im Dienst der islamischen Religion. So argumentiert er für einen Gott, der in seinem Wesen unerkennbar bleibt und die Welt aus dem Nichts geschaffen hat.
Abû Bakr ar-Râzî (865-925)
Für eine unabhängige Philosophie: Der Mediziner und Philosoph Râzî befürwortete eine von der Religion losgelöste Philosophie. Die Welt besteht nach Râzî aus drei Polen: dem barmherzigen Gott, der materiellen Welt ohne Anfang und der nach Vollkommenheit strebenden Seele. Da nach Râzî alle Menschen dieselbe Fähigkeit zur Erkenntnis haben, kann es auch keine Propheten geben. Mit solchen Aussagen handelte er sich den Ruf eines Ketzers ein.
Avicenna (Abû Alî ibn Sînâ) (ca. 980-1037)
Der Begründer einer neuen Metaphysik: Der hochbegabte Mediziner und Philosoph Avicenna versuchte Glaube und Vernunft zu harmonisieren. Er begründete eine neue Metaphysik und formulierte einen eigenen Gottesbeweis, indem er das zufällige Weltgeschehen auf einen notwendig existierenden Gott zurückführte. Zudem argumentierte er für eine unkörperliche und unsterbliche Seele jedes Menschen und sprach den Propheten – ebenso wie den wahren Philosophen – eine untrügliche Intuition zu.
Al-Ghazâlî (gest. 1111)
Der Kritiker der Philosophen: Der Theologe Ghazâlî wies die Philosophie in ihre Schranken. Einzig die Logik hielt er für unantastbar. Die philosophische Ethik hingegen sei überflüssig, weil sie nur das lehre, was auch Propheten lehren. Und die Metaphysik sei in grossen Teilen unbegründet, falsch oder gar widersprüchlich, wie er in seiner Schrift «Die Inkohärenz der Philosophen» nachzuweisen versuchte. So kritisierte er etwa die philosophischen Ansichten, dass die Welt ewig sei und der Mensch nicht mit seinem Körper auferstehen könne.
Averroes (Abû l-Walîd ibn Ruschd) (gest. 1198)
Zurück zu Aristoteles: Der Arzt und Jurist Averroes wertete die Philosophie auf und lehrte, der Koran gebiete das Philosophieren. Er unterschied zwischen einer wörtlichen und einer allegorischen Koranexegese und zeigte, dass entscheidende Stellen jeweils mehrere, sich widersprechende Deutungen zulassen. So versuchte er auch alle Kritikpunkte Ghazâlîs an der Philosophie zu widerlegen sowie Glaube und Vernunft unter Rückgriff auf Aristoteles wieder in Einklang zu bringen.
Schihâabddîn as-Suhrawardî (gest. 1191)
Philosoph der Erleuchtung: Der iranische Theologe und Philosoph Suhrawardî setzte ganz auf das intuitive Denken, auf eine erleuchtende «Illumination». Er wertete die Logik wie überhaupt die diskursive Philosophie ab und meinte, die politische Führung sollte niemals einem Philosophen übertragen werden, sondern jemandem, der Einblick in das göttliche Wesen der Welt habe. Dieses Wesen ist nach Suhrawardî nichts anderes als Licht.
Nach 1200 wurde die islamische Philosophie von den Lehren Avicennas dominiert, hinzu kam eine starke Rezeption der Ideen Suhrawardîs. Allerdings ist die Zeit vom 13. bis zum 19. Jahrhundert gemäss dem Islamwissenschaftler Ulrich Rudolph in weiten Teilen noch wenig erforscht. In Iran prägte ab dem 17. Jahrhundert die Schule von Isfahan das philosophische Denken, allen voran Mullâ Sadrâ, der in seinem Buch «Die vier Reisen» dafür argumentiert, dass die ganze Welt von Gottes Denken durchdrungen sei und zum Göttlichen hinstrebe.
Im 19. Jahrhundert kamen vermehrt politische und kulturhistorische Themen auf, etwa die Frage, warum die islamische Welt mit dem Westen im Zeitalter des Kolonialismus nicht Schritt halten konnte. Diese Frage spielt auch in den Debatten des 20. Jahrhunderts noch eine grosse Rolle, wobei die Antworten darauf sehr unterschiedlich ausfallen. So vermutet etwa der Marokkaner Mohammed al-Djâbirî (1936-2010) in seiner «Kritik der arabischen Vernunft» den Grund für die Dominanz des Westens in der islamischen Vermischung von Vernunft und Glaube, die den wissenschaftlichen Fortschritt gebremst habe.
Gibt es eine «pensée islamique»?
Der algerische Philosoph Mohammed Arkoun (1928-2010) kritisiert dagegen beide Denktraditionen: die westliche, weil sie einseitig auf die Vorherrschaft der zweckrationalen Vernunft gesetzt habe, und die islamische, weil sie zu sehr auf Abwehr und Rechtfertigung eingestellt gewesen sei. Arkoun schlug vor, ein eigenes, spezifisch islamisches Denken («pensée islamique») zu entwickeln, was wiederum von anderen Autoren wie dem Syrer Sâdiq al-'Azm (geb. 1934) als Preisgabe der universalen Vernunft kritisiert wurde.
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft spielt auch in der heutigen islamischen Philosophie eine wichtige Rolle, während in der westlichen Philosophie Religion und Glaube eine eher untergeordnete Rolle spielen. Das mag damit zu tun haben, dass die gesellschaftlichen Realitäten andere sind und die Philosophie, wie Hegel meinte, nichts anderes ist als «ihre Zeit in Gedanken gefasst».