SRF: Wie sind Sie ausgerechnet auf den Hund gekommen?
Aline Steinbrecher: Tiere hinterlassen natürlich keine Briefe. Beim Lesen der Quellentexte aus der Frühen Neuzeit fiel mir auf, wie häufig Hunde erwähnt werden. Die Quellenlage und die Tatsache, dass der Hund sehr nahe am Menschen ist, haben mich zu diesem Thema gebracht.
Von welchen Quellen sprechen Sie?
Ich habe bereits bekannte Texte gegen den Strich gelesen. Was verschweigen sie? In den Tollwutverordnungen zum Beispiel erfährt man, dass der Hund nicht im Bett oder auf der Ofenbank schlafen darf. Also hat der Hund im Bett und auf der Ofenbank geschlafen, und wegen der Tollwutgefahr musste dies nun verboten werden.
In Zeitungen des 18. Jahrhunderts fand ich viele Vermisstenanzeigen von Hunden: Darin beschreiben Besitzer ihre vermissten Tiere sehr liebevoll und genau. So erfahre ich viel über die Beziehung zwischen Mensch und Hund.
Was haben Sie herausgefunden?
Ich habe mich auf Stadthunde zwischen 1650 bis 1850 konzentriert. Ich behaupte, man kann die Geschichte des städtischen Bürgertums im 18.Jahrhundert ohne den Hund nicht verstehen. Der Hund hat die bürgerliche Kultur massgeblich mitgeprägt. In Zürich gab es damals pro Kopf drei Mal so viele Hunde wie heute. In den zeitgenössischen Illustrierten waren Hunde ein grosses Thema: Wie hat man Hunde zu halten, wie soll man sie erziehen? Solche Fragen haben das Bürgertum beschäftigt.
In Zürich gab es damals pro Kopf drei Mal so viele Hunde wie heute.
Heute werden Hunde wie Familienmitglieder behandelt. Wie war das damals?
Lange glaubte man, die emotionale Beziehung zwischen Mensch und Haustier habe sich erst im 19. Jahrhundert entwickelt. Doch ich kann belegen, dass sie schon ab Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden ist: Hunde lebten im geheizten Innenraum, teilten das Bett mit Menschen. In einer Zeit, wo nicht mal alle Menschen in geheizten Räumen lebten, ist das bemerkenswert. Das Dienstpersonal zum Beispiel hatte keinen Zugang zu manchen Zimmern, in denen sich Hunde aufhielten. Das alles zeigt: Hunde gehörten zur engeren Familie.
Welchen Stellenwert haben Tiere in der Geschichtsforschung?
Seit der kulturalistischen Wende werden neue Themen wichtig: Man interessiert sich für die Geschichte von Patienten, für Alltagsgeschichte. Im Zuge dieser Wende bekamen die Tiere immer grössere Aufmerksamkeit. Die Tiergeschichte will zeigen, dass Tiere historische Handlungsmacht besassen.
Immer, wenn neue Akteursgruppen das Wissen in gewissem Sinn neu ordnen, spricht man von einem «turn». So weit sind wir mit der Tiergeschichte noch nicht, aber sie hat sich von der «Orchideendisziplin» zum ernstzunehmenden historischen Forschungsgebiet gemausert.
Das Dienstpersonal zum Beispiel hatte keinen Zugang zu manchen Zimmern, in denen sich Hunde aufhielten.
Wie können Tiere Handlungsmacht haben?
Ich kann zum Beispiel zeigen, dass sich mit den Hunden im 18. Jahrhundert die Kulturtechnik des Spaziergangs mit entwickelt hat. Oder nehmen wir die Geschichte des 1. Weltkrieges: Sie lässt sich ganz anders schreiben, wenn man Pferde in den Blick nimmt.
Man könnte zahllose Tierarten erforschen – was sagen Sie zur Kritik der Beliebigkeit?
Die Theorie zum «animal turn» gibt es. Nun braucht es Quellenarbeit und empirische Beispiele. So steigen wir HistorikerInnen in die Archive und untersuchen Katzen, Bienen, Meerschweinchen, aber auch zum Beispiel Viren und Bakterien. Der Vorwurf der Beliebigkeit ist immer da, wenn neue Felder aufgehen. Auch Frauengeschichte oder Patientengeschichte wurde am Anfang belächelt. Die Relevanzfrage muss man sich gefallen lassen.
Doch Hunde sind bestimmt so bedeutend wie andere Felder in der Geschichte des Bürgertums, die schon längst erschlossen sind. Da wurde zum Kaffeehaus geforscht, zum Spazierstock, doch den Hund hat man bisher ausgelassen. Ich versuche, diese Forschungslücke zu schliessen.
Eine Frage muss noch gestellt werden: Haben Sie einen Hund?
Diese Frage kam bei jedem Vortrag. Manchmal hätte ich am liebsten nein gesagt, obwohl ich einen habe. Ich wollte wegkommen von dem Klischee «Frau mit Hund forscht zu Hunden». Heute antworte ich: Wenn ich über die Fabrikarbeit oder zu Webstühlen forsche, will niemand wissen, ob ich eine Fabrik besitze oder am Webstuhl gearbeitet habe!
Das Gespräch führte Christa Miranda.
Sendung: Sternstunde Philosophie, 11.12.2016, 11.00 Uhr