Ist die Coronakrise eine Chance für die Gesellschaft oder beschleunigt sie im Gegenteil ihren Kollaps?
Die Ökonomin Monika Bütler sieht Potential für ein Wirtschaftswachstum – auch in Zeiten von geschlossenen Läden. Für ihren Kollegen Niko Paech ist die Krise vor allem ein Weckruf. Die Gespräche wurden separat geführt.
Wird sich unser Lebensstil nach der Corona-Krise verändern?
Niko Paech: Die Pandemie ist ein zwangsläufig auferlegtes Übungsprogramm für Genügsamkeit und Sesshaftigkeit. Nicht wenige Menschen kommen dadurch zur Besinnung.
Manchen beginnt zu dämmern, dass eine Rekonstruktion des Prä-Corona-Zustandes weder wünschenswert noch – angesichts des Klimawandels – verantwortbar wäre. Darin liegt eine Chance. Das nun Erlernte könnte dazu beitragen, dass nachhaltige Lebensstile ihren Schrecken verlieren.
Denn alle Versuche, ein sogenanntes «grünes» Wachstum durch technische Innovationen zu entfachen, sind grandios gescheitert. Somit kann die ökologische Überlebensfähigkeit der menschlichen Zivilisation nur durch eine massive Anspruchsreduktion wiedererlangt werden.
Monika Bütler: Die Armen sind durch die Pandemie besonders betroffen, selbst in Ländern ohne einschränkende Massnahmen. Viele Reiche sind noch reicher geworden.
Eine kürzliche Studie des Nobelpreisträgers Angus Deaton hat aber auch gezeigt, dass die globale Ungleichheit während der Pandemie zurückgegangen ist: Die reichen Länder haben mehr verloren als die armen.
Es besteht die Gefahr, dass sich die Jungen übervorteilt fühlen.
Die Jungen mussten sich in der Krise sehr stark zurücknehmen. Sie sind finanziell stark belastet durch Alterssicherungssysteme, die nicht nachhaltig finanziert sind.
Es besteht die Gefahr, dass sich die Jungen übervorteilt fühlen. Deshalb müssen wir die Alterssicherung angehen, bevor die Spannungen noch grösser werden. Mit der höheren Lebenserwartung müssen zum Beispiel jene, die können, länger arbeiten.
Können wir auch nach Corona wirtschaftlich immer weiter wachsen oder drängt sich ein Systemwechsel auf?
Niko Paech: Es mag sein, dass nach der Krise vorübergehend jene die Oberhand behalten, die um des Wohlstandschutzes willen den vormaligen Amoklauf gegen die Lebensgrundlagen fortsetzen wollen.
Mit jeder weiteren Zuspitzung wächst die Anzahl der Menschen, die erkennen, dass der Steigerungswahn nicht zukunftsfähig sein kann und damit beginnen, sich langsam auf eine Postwachstumsökonomie einzustellen.
Monika Bütler: Ein grundlegender Systemwechsel drängt sich nicht auf. Was wir angehen müssen, ist die Klimafrage. Wir müssen dort wirtschaftspolitische Massnahmen treffen, wo wir zu viel Energie und zu viele Rohstoffe brauchen, weil wir damit die nachfolgenden Generationen schädigen. Konsens unter Ökonomen ist etwa eine CO2-Steuer.
Wirtschaftswachstum entsteht vor allem durch Innovationen. Würde man das Wirtschaftswachstum drosseln wollen, dann müsste man ja die neuen Ideen abstellen. Das ist vollkommen illusorisch. Kommt hinzu: Wir haben keine Regierung, die uns zwingt, zu wachsen. Aber wir haben natürlich den globalen Wettbewerb.
Ein grosser Teil des Wachstums ist Qualität.
Das Wachstum geht ja bereits zurück. Die letzten 20 Jahre war das Wachstum weltweit tiefer als vorher in den Industriestaaten, weil wir älter werden, weil wir an Grenzen stossen.
Wir haben oft das Gefühl, dass Wachstum vor allem ein materielles Wachstum ist. Aber das war bereits in den letzten Jahren nicht mehr so. Ein grosser Teil ist Qualität: bessere Technologien, kleinere und gleichzeitig leistungsstärkere Computer und so weiter. Auch das ist Wachstum.
Wird unsere Arbeitswelt nach Corona eine andere sein?
Niko Paech: Ohne Wirtschaftswachstum kann Vollbeschäftigung nur durch eine prägnante Arbeitszeitverkürzung erzielt werden. Ausserdem wird sich die Art der Arbeit verändern.
Sie wird wieder handwerklicher, manueller und weniger technisiert sein. Nur auf dieser Grundlage gelingt es, den Sinn der Arbeit weniger in der Einkommenserzielung zu sehen als darin, die eigenen Fähigkeiten reifen zu lassen und möglichst unabhängig von Maschinen und Konsum zu sein. Denn gerade der letztere dient oft nur dazu, das Sinnvakuum hoch spezialisierter und digitalisierter Beschäftigungen zu füllen.
Die Arbeit wird in Zukunft wieder handwerklicher, manueller und weniger technisiert sein.
Monika Bütler: Die Mobilität wird anders sein, Geschäftsreisen werden zurückgehen. Es hat in den letzten Monaten viele Firmengründungen gegeben. Die Leute haben sich gesagt, jetzt ist die Gelegenheit, etwas Neues im Leben anzupacken.
Krisen, so schlimm sie auch sind, sind Nährboden für Innovationen. Und: Wir haben den Grossteil des Wirtschaftswachstums in den letzten 100 Jahren bereits in eine Verkürzung der Arbeitszeit gesteckt. Heute arbeiten die Menschen in den reichen Ländern deutlich weniger als in den armen.
Welche Auswirkungen wird die Corona-Krise auf die Globalisierung haben?
Niko Paech: Damit eine chinesische Epidemie zu einer Pandemie werden konnte, bedurfte es eines Netzes weltweiter und hochfrequenter Austauschbeziehungen, sowohl im Güter-, als auch im Personenverkehr.
Wenn alles mit allem verbunden und voneinander abhängig ist, lassen sich auch noch so weit entfernte Störungen nicht mehr einhegen, sondern breiten sich rapide aus, durchdringen schliesslich den globalen Raum.
Zukünftig wird entscheidend sein, sich den Versuchungen der Globalisierung zu widersetzen.
Dass die moderne Zivilisation fortwährend fragiler wurde, wäre ohne Globalisierung undenkbar gewesen. Zukünftig wird entscheidend sein, sich den Versuchungen der Globalisierung zu widersetzen, das heisst, die Distanzen zwischen der Entstehung und dem Verbrauch einer Ware zu verkürzen.
Versorgungssysteme, die so kleinräumig sind, dass sie mancher Krise trotzen, beruhen darauf, Dinge zu reparieren, gemeinsam zu nutzen oder sogar selbst zu produzieren. Das spricht für eine Regionalökonomie. Indem Konsumenten an der Herstellung oder dem Erhalt von Gütern selbst mitwirken, werden sie resilient und autonom. Sie schonen die Ökosphäre und kommen mit weniger Geld aus.
Monika Bütler: Die Corona-Zeit hat gewisse Entwicklungen beschleunigt, die schon da waren. Beispielsweise, dass viele Lieferketten wieder nach Europa zurückgenommen wurden anstelle einer Auslagerung nach Asien. Nach einer anfänglichen Abschottung zu Beginn der Krise hat die gegenseitige Versicherung dennoch wieder angefangen zu spielen.
Kein einziges Land kann sich heute allein versorgen. Letztlich kann man auch nicht die Globalisierung dafür verantwortlich machen, dass es die Pandemie in diesem Umfang gegeben hat. Zur Zeit der Spanischen Grippe 1918/1919 war die Globalisierung noch viel weniger stark. Die Verbreitung des Grippevirus geschah damals zwar weniger schnell, aber sie war auch um die ganze Welt.
Die Gespräche führten Christine Schulthess und Yves Bossart.