Adem Kujovic war erst 15-jährig und hatte gerade seine Lehre als Lebensmitteltechnologe begonnen, als über die Minarett-Initiative abgestimmt wurde.
Er erinnert sich noch gut: «Jeden Tag bin ich an diesen Plakaten vorbeigefahren mit den Raketen auf der Schweizerkarte und der grimmigen, verschleierten Frau», erzählt er. «Das macht mit heute noch traurig, wenn ich daran zurückdenke.»
Am Tag der Abstimmung kam noch die Enttäuschung hinzu: «Wir wussten, dass das Zusammenleben zwischen Muslimen und anderen Schweizern gut funktionierte – und trotzdem sagten so viele Ja zum Minarettverbot.» Er habe sich richtig hilflos gefühlt.
Rifa’at Lenzin hingegen war eher ernüchtert. Die Islamwissenschaftlerin ist die Doyenne des interreligiösen Dialogs in der Schweiz. Sie hatte sich im Abstimmungskampf engagiert, auf zig Podien und in der Sendung «Arena» des Schweizer Fernsehens erklärt, was es mit Minaretten auf sich hat und wie der Islam in der Schweiz gelebt wird.
Vergebens. «Ich war frustriert – doch überrascht hat mich das Resultat nicht. Ich habe die Stimmung im Abstimmungskampf gespürt.»
Symbolische Abstimmung mit Nebeneffekten
Die Initianten hatten das Minarett als Symbol des politischen Islams dargestellt. Hatten vor der Scharia und der Islamisierung der Bevölkerung gewarnt – und hatten damit Erfolg.
Die Nachwahlbefragung zeigte: Die Mehrheit der Befürworterinnen und Befürworter wollten ein Zeichen setzen gegen den politischen Islam. Gleichzeitig sagten die meisten, dass der Islam durchaus mit den Schweizer Werten vereinbar sei.
Bei den Musliminnen und Muslimen kam das anders an. Sie fühlten sich zurückgewiesen, sagt auch Islamwissenschaftler Andreas Tunger-Zanetti von der Universität Luzern.
Wie aber reagierte die muslimische Community? «Das Minarettverbot hat erstaunlicherweise nicht dazu geführt, dass sich die Muslime und Musliminnen zurückzogen – jedenfalls nicht im grossen Ausmass», betont Andreas Tunger-Zanetti. «Es hat sich keine Parallelgesellschaft aufgebaut wegen des Minarettverbots.»
Islamisierung ja, aber positiv
Auch bei der Radikalisierung der wenigen Schweizer Musliminnen und Muslime, die später den IS unterstützten oder gar nach Syrien reisten, war das Minarettverbot kein zentrales Thema.
«Solche Radikalisierungsbiografien sind komplex», betont Islamwissenschaftler Andreas Tunger-Zanetti. «Da kann im Einzelfall das Minarettverbot das Gefühl genährt haben, in der Gesellschaft nicht willkommen zu sein.» Konkret bekannt sei ihm das jedoch nicht.
Der Islamwissenschaftler beobachtete eher ein anderes Phänomen: Gerade junge Muslime und Musliminnen hätten sich vermehrt mit ihrer eigenen Religion auseinandergesetzt.
Das bestätigt auch Rifa’at Lenzin. Sie spricht von einer positiven Islamisierung: «Sich seiner religiösen Identität bewusst zu sein und Stellung nehmen zu müssen, das gab es früher so nicht.»
«Mein Glaube war plötzlich öffentlich»
Genauso ging es dem jungen Adem Kujovic, der gerade seine Lehre begonnen hatte. «Ich musste auf der Arbeit plötzlich meine Religion verteidigen», erinnert er sich. «Das war eine grosse Herausforderung. Mein Glaube, meine Religion haben sich plötzlich öffentlich angefühlt.»
Ein Gefühl, das wohl fast alle Muslime und Musliminnen kennen. «Wir müssen stets Red und Antwort stehen für die ganze muslimische Weltbevölkerung», sagt Tugba Kara. Die Sozialarbeiterin kam just nach der Minarett-Initiative aus Deutschland in die Schweiz. «Meine Eltern waren gar nicht begeistert. Sie waren besorgt, dass ich in die Schweiz ziehe, wo Musliminnen in ihren Augen diskriminiert würden.»
Doch Tugba Kara liess sich nicht von ihren Plänen abbringen, studierte in Luzern und leitet unterdessen die Jugendarbeit in Zürcherischen Dietlikon.
Ein Ruck, ein Weckruf
Sich zu engagieren, sich als Muslim oder Muslimin hinzustellen, das brauche Mut, betont Tugba Kara. «Es braucht Mut, sich den Klischees und Vorwürfen entgegenzustellen. Es braucht aber auch Mut, sich innerhalb der eigenen Gemeinschaft hinzustellen.» Denn oft werde man von aussen und von innen angegriffen.
«Deshalb braucht es auch Bildung – fitte Leute, die aufklären können.» Und das sei streng, ergänzt Adem Kujovic, der in diversen Vereinen und Organisationen tätig ist, unter anderem im Vorstand der Moscheegemeinde in Bürglen (TG).
Dass sich Adem Kujovic, Tugba Kara und Rifa’at Lenzin im interreligiösen Dialog engagieren, kommt nicht von ungefähr. Nach dem Ja zum Minarettverbot ging ein Ruck durch die muslimische Gemeinschaft. Viele haben begonnen, sich einzusetzen.
Die Arbeit der muslimischen Verbände und Moscheevereine ist professioneller geworden. Gleichzeitig haben auch Gemeinden, Städte und Kantone begonnen, Fachstellen aufzubauen, um mit den Musliminnen und Muslimen in Kontakt zu kommen.
Allein es fehlt das Geld
Die Professionalisierung von Seiten der Muslime und Musliminnen geschieht jedoch grossmehrheitlich in Freiwilligenarbeit – und stösst deshalb an ihre Grenzen. «Man müsste anerkennen, was die muslimische Gemeinschaft alles leistet», betont Islamwissenschaftlerin Rifa’at Lenzin. «Das geschieht noch viel zu wenig.»
Adem Kujovic erlebt dies im Alltag. Er sitzt im Vorstand von «Ummah», einem Verein für junge, gläubige Musliminnen und Muslime. «Die Jugendlichen haben so viele Ideen und hätten bei der Umsetzung gerne Unterstützung.» Im Moment geschehe eher das Gegenteil. Verlangt würden ausgefeilte Konzepte, die die Jugendlichen häufig überforderten. «So vergeht einem die Freude am Engagement», erzählt Adem Kujovic.
Eine Möglichkeit, um die Arbeit der Musliminnen und Muslime in ihren Verbänden, in der Jugendarbeit und in den Moscheevereinen finanziell besser zu stellen, wäre die öffentliche Anerkennung von muslimischen Gemeinschaften. «Die Gesellschaft ist dazu aber noch nicht bereit», sagt Islamwissenschaftlerin Rifa’at Lenzin.
Und Sozialarbeiterin Tugba Kara betont: «Wir brauchen auch eine innermuslimische Debatte – darüber, wohin wir wollen. Aber auch über eine neue Lesart des Korans.» Tugba Kara möchte mehr Einigkeit unter den Muslimen. «Wir kriegen es ja nicht mal hin, dass all die engagierten Musliminnen und Muslime zusammen einen Konsens finden.»
Hoffnung auf die dritte Generation
Tugba Kara setzt ihre Hoffnungen auf die Jungen. Heute lebe die dritte und vierte Generation von Musliminnen und Muslimen in der Schweiz. «Sie werden sich mehr mit ihrer Religion beschäftigen, und zwar auf Deutsch. Sie werden den Islam auf eine neue Weise anschauen und mit mehr Wissen in all die Diskussionen einsteigen», ist Tugba Kara überzeugt.
Auch Adem Kujovic, selbst aktiv in einer Moscheegemeinde, sagt: «Meine Vision sind ebenfalls deutschsprachige Moscheen.» Doch sie müssten gemeinsam mit der älteren Generation entstehen, die in der Schweiz viel aufgebaut habe.
In den vergangenen zehn Jahren seit der Minarett-Initiative hat sich also einiges getan bei den Schweizer Muslimen und Musliminnen. Doch Konflikte wie die Handschlagaffäre von Therwil (BL), als zwei Buben sich weigerten, ihrer Lehrerin die Hand zu geben – oder kantonale Initiativen zum Burkaverbot, die angenommen wurden, zeigen: So richtig angekommen in der Mitte der Gesellschaft sind «die Muslime», sofern es diese als Einheit überhaupt gibt, noch nicht.
Zwischen Pessimismus und leiser Hoffnung
Wie lange also dauert es noch, bis die Musliminnen und Muslime in der Schweiz einfach dazugehören? «Das geht noch sehr lang», glaubt Rifa’at Lenzin. «Die Schweizer sind sehr konservativ, sehr zurückhaltend. Was sehr bedauerlich ist für alle, die gerne dazugehören möchten.»
Sozialarbeiterin Tugba Kara sagt kurz und bündig: «Es dauert so lange, bis die Bevölkerung keine Angst mehr hat vor dem Islam.»
Das würde Adem Kujovic sofort unterschreiben. Und ergänzt: «Mein Wunsch ist, dass die Schweiz bald wieder ein Vorbild sein kann im Umgang mit Musliminnen und Muslimen. Ein Vorbild für die Religionsfreiheit.»