Das Wichtigste in Kürze
- Das Bild vom Sturm auf den Winterpalast in St. Petersburg wurde zum Symbol der Oktoberrevolution.
- Die Schwarz-Weiss-Fotografie ist eine Fälschung: Sie zeigt ein Theaterstück, in dem der Sturm nachgestellt wurde. Im Nachhinein wurden Details wegretuschiert.
- Die retuschierte Fotografie sollte das Wir-Gefühl und das Selbstbewusstsein des russischen Volkes stärken.
- Das Beispiel zeigt, wie hartnäckig sich falsche Fakten in der Geschichtsschreibung und im öffentlichen Bewusstsein festsetzen können.
Ein Symbol entpuppt sich als Schwindel
Ein Foto: Bewaffnete Männer in Militärmänteln rennen über einen Platz. Das Bild ist von einer erhöhten Position aus aufgenommen und zeigt die Männer von hinten. Die Dynamik der Menge reisst den Blick des Betrachters mit, auf das Ziel hin: den Winterpalast.
Das Bild des Sturms auf den Winterpalast in St. Petersburg wurde zum Symbol der Oktoberrevolution. Zahlreiche Zeitungen und Journale druckten es ab. Es fand schnell seinen Weg in die Schulbücher sozialistischer Länder.
«Das Foto ist einzigartig ausdrucksstark», schrieb Fotohistoriker Leonid Volkov-Lannit in einem 1971 erschienenen Fotoband mit dem bemerkenswerten Titel «Geschichte wird mit dem Objektiv geschrieben». Damit hat Volkov-Lannit recht.
Doch das hochgerühmte Bild hat einen entscheidenden Mangel. Es zeigt nicht, was es zu zeigen behauptet. Es ist eine Fälschung, die 1920 entstand – drei Jahre nach der Oktoberrevolution.
Ein Miteinander um jeden Preis
1920 konnte das russische Volk ein wenig Kitt fürs Wir-Gefühl und eine Stärkung des Selbstbewusstseins gut gebrauchen. Die Ereignisse um die Revolution 1917 hielten das Land schon seit Jahren in Atem.
Russland kämpfte mit schweren wirtschaftlichen und sozialen Problemen. Wiederholt war es zu Streiks und Aufständen gekommen. Im Februar 1917 musste der Zar abdanken.
Im Winterpalast wurde die Provisorische Regierung eingerichtet, die mit grossen Problemen zu kämpfen hatte: In Russland herrschte Bürgerkrieg, in Europa wütete der Erste Weltkrieg.
Alexander Kerenski, ab 1917 Vorsitzender der Provisorischen Regierung, war Verfechter einer institutionellen Monarchie. Das machte ihn zur Zielscheibe für die kommunistischen Bolschewiki, die am 25. Oktober 1917 den Winterpalast stürmten.
«Das war ein nichtssagendes Ereignis, nur ein Stürmchen», sagt Sylvia Sasse. Sie ist Slawistin an der Universität Zürich und hat ein Buch über den Sturm auf den Winterpalast verfasst. Der historische Sturm sei keine grosse Sache gewesen, sagt Sasse. Kerenski und andere Mitglieder der Provisorischen Regierung waren längst geflohen. Der Winterpalast war weitgehend leer.
Blick auf eine gespielte Revolution
Zum pompösen und massenpsychologisch wirkungsvollen Sturm wurde das Stürmchen erst im November 1920. Da wurde die Revolution auf Geheiss der sowjetischen Regierung nachgestellt.
Alles unter professioneller Leitung: Nikolaj Evreinov, ein Fachmann für grosse Theaterspektakel, und sechs bis acht weitere Regisseure organisierten das Spektakel mit rund 10‘000 Darstellern in drei Wochen.
Auf dem Palastplatz wurden zwei 30 Meter breite Bühnen aufgebaut; eine weisse, auf der der Untergang der bourgeoisen Provisorischen Regierung nachgespielt wurde, und eine rote, auf der das Erwachen des Volkes und der Kampfgeist der Bolschewiki gefeiert wurden.
Schauspieler im Siegesrausch
Im Zentrum des Geschehens: Soldaten, Matrosen, Schauspieler, die den Sturm auf den Winterpalast nachstellten. Es waren auch Männer dabei, die beim «echten» Sturm mitgemacht haben sollen.
Diese Zeitzeugen waren wichtig, sollten sie das Ereignis doch legitimieren. Denn bei diesem nachgestellten Sturm ging es nicht darum, ein Theaterstück aufzuführen oder ein Publikum zu unterhalten. Das Massenspektakel wurde inszeniert, um ein Wir-Gefühl zu feiern.
Die Akteure, die Zuschauer, alle zusammen sollten sich an diesem nachgestellten Stück eigener Geschichte berauschen, an dem Sieg, den sie nur wenige Jahre zuvor über das alte Regime errungen hatten.
Photoshop für Revolutionäre
Im Rahmen dieser Reinszenierung zum dritten Jahrestag der Oktoberrevolution machte der Armeefotograf Ivan Kobozev eine Serie von Fotografien. Er sollte das Spektakel für all jene dokumentieren, die nicht dabei sein konnten. Dabei entstand auch jenes Bild, das sich als geschichtliches Dokument des Sturms auf den Winterpalast durchsetzen sollte.
Allerdings musste das Foto vom Palastplatz stark retuschiert werden, um als Revolutionsdokument gelten zu können. Die Zuschauer am Bildrand wurden weggeschnitten, ein Regieturm neben der Alexandersäule übermalt.
Dabei ging man recht stümperhaft vor. Ein wichtiges Detail wurde bei allen Retuschen übersehen: der sozialistische Stern, der erst seit November 1917 an der Palastfassade hing. Der blieb auf allen Fotovarianten sichtbar.
Zufällig am Schauplatz oder am Schnittplatz?
Kein Wunder also, dass nach der Publikation des ausdrucksstarken Bildes vom Sturm auf den Winterpalast Zweifel an der Echtheit des Fotos aufkamen. Es gab Stimmen, die behaupteten, das Bild stamme aus Sergej Eisensteins Film «Oktober» aus dem Jahr 1928.
Der sowjetische Fotohistoriker Leonid Volkov-Lannit indes behauptete 1971, der Armeefotograf Kobozev sei zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen und habe die Gunst der Stunde genutzt, um eines der grossen Fotodokumente des 20. Jahrhunderts zu schaffen.
Falsche Fakten setzen sich hartnäckig fest
In höheren Regierungskreisen wusste man um die Fälschung des Bildes, verwendete es aber dennoch. Man brauchte Bilder, Symbole, alles, was das Volk zu einer Einheit zusammenschweissen konnte.
Sylvia Sasse und Inke Arns entlarven in ihrer Publikation nicht nur den Schwindel um das falsche Revolutionsfoto. Sie zeigen auch, wie hartnäckig falsche Fakten sich im öffentlichen Bewusstsein festsetzen können.
Selbst in westlichen Medien wird das berühmte Foto vom Sturm auf den Winterpalast gelegentlich mit falscher Bildlegende verwendet. Jüngst etwa im «Zeit Magazin», wo das Foto als Standbild aus Sergeij Eisensteins Film «Oktober» deklariert wurde.
Die Geschichte um die Fotos vom Sturm auf den Winterpalast zeigt: Falsche Fakten sind oft nur schwer zu revidieren.