Er will nicht wissen, wie viel er fürs Wissen schon an Zeit aufgewendet hat. Diego Hättenschwiler ist seit 2004 «Wikipedianer». Er hat freiwillig und unbezahlt unzählige Stunden, Manntage, Mannjahre investiert, um neue Artikel zu schreiben und sie mit Bildern in die deutschsprachige Wikipedia einzufügen.
Dazu hat er unzählige Artikel anderer gesichtet und ergänzt. Immer mit der Motivation, das frei zugängliche Wissen noch besser, präziser, nachprüfbarer zu machen. «Die Wahrnehmung von Wikipedia ist gross. Selbst die kleinste Ergänzung in einem Artikel gibt mir die Befriedigung, etwas Sinnvolles beizutragen.»
Der 57-Jährige wählt auch immer mal wieder ein Ausflugsziel danach aus, ob es von dem Ort schon ein Foto auf Wikipedia gibt. Wenn nicht, könne man das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden und gleich ein paar Fotos schiessen. Spotting einmal nicht für Instagram, sondern für das Bildungsbürgertum.
Wie ist Wikipedia entstanden?
Wikipedia startete am 15. Januar 2001 mit der klaren Vision einer frei zugänglichen Internet-Enzyklopädie. Das menschliche Wissen sollte raus aus den behäbigen Brockhäusern und Britannicas in die freie und schnell verfügbare Welt des Internets. «Wikipedia» ist denn auch ein Kompositum aus dem hawaiischen «wiki» für «schnell» und dem englischen «Encyclopedia».
Als treibende Kraft unter den Gründervätern gilt der Unternehmer Jimmy Wales. Als Börsenhändler und mit kommerziellen Internet-Projekten hatte er sich ein zwar nicht grenzenloses Vermögen wie die ganz Grossen der Informationstechnologie geschaffen, aber eine ausreichende Basis, um ein gemeinnütziges Projekt zu starten.
Wikipedia wird von der Wikimedia Foundation getragen, einer Non-Profit-Organisation mit Sitz in San Francisco. Aus der ursprünglich auf Englisch erschienen Wikipedia sind mittlerweile Wikipedien in fast 300 Sprachen entstanden. Ein einzigartiger Schatz unabhängigen, kulturellen Wissens online verfügbar – immer umsonst.
Die meisten Artikel werden pro Sprache neu geschrieben, nicht übersetzt. So finden sich spannende Unterschiede, wie ein Thema nach Kulturkreis dargestellt wird.
Deutschsprachige Wikipedia feiert auch Jubiläum
Als erste weitere Sprachausgabe nach der englischen Wikipedia wurde zwei Monate später die deutschsprachige Wikipedia gegründet. Sie kann das 20-jährige Jubiläum also mitfeiern.
Autorinnen und Autoren je Sprache und Kulturraum begannen sich mit der Zeit, in Vereinen zu organisieren, den sogenannten «Chapters». So wurden 2004 Wikimedia Deutschland, 2006 Wikimedia Schweiz und 2008 Wikimedia Österreich als unabhängige Trägervereine der deutschsprachigen Wikipedia gegründet.
Die Chapters unterstützen die Autorenschaft in ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit. Sie organisieren Anlässe, bei denen sich die Schreibenden kennenlernen. Dazu Publikumsveranstaltungen zur Gewinnung neuer Autorinnen und Autoren.
Sie halten Kontakt zum Mutterhaus in San Francisco, welches die Software entwickelt und die Server zur Verfügung stellt. Ausserdem zeichnen sie verantwortlich für die Online-Spendensammlungen jeweils in der Weihnachtszeit.
Wer darf bei Wikipedia schreiben und ändern?
Wikipedia fusst auf einem radikal demokratischen Ansatz: Jeder Mensch kann sein Wissen einbringen und am Weltwissen mitarbeiten. Für einen Beitrag braucht es kein Login. Wer anonym schreiben will, kann das. Ein ausgeklügeltes System der gegenseitigen Kontrolle sorgt dafür, dass niemand eine Deutungshoheit erlangt über das zusammengetragene Wissen.
Jede Sprachversion etabliert Prozesse, die die Qualität der Einträge sichern sollen. So werden Änderungen von Neulingen etwa in der deutschsprachigen Wikipedia erst einmal von erfahrenen Autoren gesichtet. Das bedeutet keine Korrektur, sondern die Überprüfung, ob der Eintrag plausibel ist. Offensichtlicher Unsinn wird umgehend gelöscht.
Neue Artikel werden nicht vorgängig gesichtet, sondern gleich veröffentlicht, aber scharf beobachtet von der Community. Schon nach wenigen Minuten kann ein Antrag auf Löschung erfolgen.
Es kommt zu einer siebentägigen Diskussion über eine definitive Löschung oder eine Wiederherstellung. Landsgemeinde im Netz – mit Transparenz: Die Versionsgeschichte wie auch der Diskussionsverlauf über die Einträge werden zu jedem Artikel protokolliert und sind für alle einsehbar.
Wie glaubwürdig ist Wikipedia?
Fakten, Fake, Verschwörungstheorien. Die Herausforderungen für Wikipedia, wirklich belegbares Wissen zu publizieren, waren kaum grösser. «Wir haben das unter Kontrolle», ist Diego Hättenschwiler überzeugt.
Den zahllosen Augen der aufmerksamen Wikipedianern entgehe wenig. Abstruses oder Hasserfülltes werde innerhalb von Sekunden gelöscht. Nicht nur dies. «Bei Verschwörungstheorien können wir Gegenbelege integrieren und so zur Demontage der Verschwörungstheorie beitragen.»
Vielleicht geht es bei weniger offensichtlich problematischen Einträgen auch mal etwas länger. Public-Relations-Unternehmen haben das strategische Ziel, eine Unternehmung oder eine Person im besten Licht darzustellen. Sie verfügen über finanzielle Mittel und Beharrlichkeit. Wikipedia kann dem mit ungebrochenem Fleiss der Community entgegentreten.
Wie funktioniert Wikipedia?
«Dass Wikipedia funktioniert, ist für uns immer wieder erstaunlich», meint Ur-Wikipedianer Hättenschwiler. «Denn grundsätzlich macht jeder, was er will.» Weltweit arbeiten geschätzt 100’000 Freiwillige für die verschiedenen Wikipedien.
Die deutschsprachige Wikipedia wird von rund 8’000 regelmässig tätigen Autorinnen und Autoren getragen. In der Schweiz sind es ein paar Hundert. All diese Menschen kennen sich meistens nicht. Sie leisten für sich allein ihren Beitrag zum grossen Ganzen. Es kursiert das Bonmot unter der Autorenschaft: «Wikipedia funktioniert in der Theorie nicht, nur in der Praxis.»
Eine Erklärung liefert Felix Stalder von der Zürcher Hochschule der Künste. Er ist Professor für Digitale Kultur. «Der Prozess der Teilhabe ist ganz zentral. Wikipedia fusst vor allem auf der Arbeit der Freiwilligen. Diese müssen deshalb in alle Entscheidungen eingebunden sein.» Nur mit dieser konsensorientierten Organisation bleiben die Freiwilligen motiviert, weiter zu arbeiten.
Einen ähnlich radikalen Ansatz der Offenheit hat für Stalder neben Wikipedia lediglich OpenStreetMap, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen, das frei nutzbare Geodaten sammelt, sowie das Projekt Open Access, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen, das freien Zugang zu Wissenschafts-Literatur gewährt.
Was ist das Erfolgsrezept?
Wikipedia entspricht in der Art den Visionen des World-Wide-Web-Gründers Tim Berners-Lee, der seine Web-Konzeption nicht patentieren liess. Nur deshalb hat sich das World Wide Web als Standardtechnologie des Internets durchgesetzt, weil es kein kommerzielles Produkt war. Erst diese Entscheidung zum offenen System liess es universell werden.
Wegen desselben Ansatzes hat sich Wikipedia als universelles Nachschlagewerk des Internets etabliert. Die Wikipedia-Inhalte waren von Beginn weg kostenlos. Ebenso kann die zugrunde liegende Software MediaWiki von wem auch immer für eigene Zwecke verwendet werden. Wahre Grösse liegt im (monetären) Verzicht.
Berners-Lee wurde Vorsitzender des World-Wide-Web-Konsortiums, Professor am Massachusetts Institute of Technology und zum britischen Sir ernannt. Das grosse Geld basierend auf seiner Technologie machten andere.
Ausserdem ist Wikipedia unter den weltweit 50 meist besuchten Websites die einzig nicht-kommerzielle. In der Schweiz rangiert Wikipedia nach Google, Youtube und Facebook auf Rang 4 der am häufigsten besuchten Websites.
Wie vernetzt sind Wikipedia und Google?
Wer Wissen sucht, endet oft bei Wikipedia. Meist dadurch, dass vorgelagert Google als Suchmaschine genutzt wird. Während Wikipedia für ihre von Menschen zusammengetragenen Inhalte verantwortlich zeichnet und damit nichts verdient, lässt sich Google seine maschinell aufgebaute Wissensvermittlung mit Werbeanzeigen vergolden.
Oft rangieren Wikipedia-Einträge bei Google weit vorne. Dies nicht, weil die beiden Organisationen verbandelt wären. Vielmehr wertet der Google-Algorithmus umfassende Inhalte mit Quellenangaben als gut ein.
Beide Seiten dieses ungleichen Paares profitieren: Wikipedia festigt ihren Stellenwert mit vielen Klicks aufgrund der Top-Platzierungen bei Google. Google wiederum davon, dass es gehaltvolle Inhalte anzeigen kann für seine Nutzerinnen und Nutzer, welche dabei auch die eine oder andere Werbeanzeige anklicken. Google hat in der Vergangenheit auch schon mal eine Millionenspende aus der Portokasse für Wikipedia springen lassen.
Wäre es nicht verlockend – im Wissen um die Milliardenumsätze von Google – ein Werbemodell bei Wikipedia einzuführen? «Undenkbar», sagt Diego Hättenschwiler bestimmt. Alles, was die inhaltliche Unabhängigkeit infrage stellen könnte, ist eine rote Linie. Es wäre ideeller Hochverrat an der geleisteten Freiwilligen-Arbeit. Und damit wohl das Ende des Erfolgsmodells von Wikipedia.
Wozu braucht Wikipedia Geld?
Die Verlockung zur Kommerzialisierung bleibt vorderhand klein. Denn Geldsorgen muss sich Wikipedia zurzeit keine machen. Die weltweit von den regionalen Chapters organisierten Spendenaktionen bringen genügend ein, um die Kosten zu decken.
Wikimedia Deutschland meldete, dass das deutsche Spendenziel von 8,7 Millionen Euro in der Weihnachtszeit 2020 in Rekordzeit erreicht wurde. Ein Teil der Spenden wird in den Chapters für die eigenen Aufwendungen gebraucht, der andere Teil geht ans Mutterhaus für die immer grösser werdende Server-Infrastruktur und die Weiterentwicklung der Software.
Der Gesamtaufwand im Betriebsjahr 2018/2019 betrug 90 Millionen Dollar – 10 Millionen mehr als im Betriebsjahr zuvor. Es wachsen aber nicht nur die Kosten, sondern auch die Spenden-Erträge.
Mit welchen Problemen kämpft Wikipedia?
Mehr Sorgen bereitet der eigene Nachwuchs. Zwar kommen immer wieder neue Schreibende hinzu. Diese bleiben aber meist nicht langfristig dabei. Dieses Problem kennen wohl auch Kegel- und Turnvereine. Wikipedia-spezifisch ist der Umstand, dass es zu vielen populären Themen schon ziemlich ausgereifte Artikel gibt. Nischenthemen gibt es aber noch grenzenlos viele.
So nimmt die Menge der neu produzierten Artikel vorderhand nicht ab: In der deutschsprachigen Wikipedia kommen jeden Tag durchschnittlich 300 neue Artikel hinzu. Mehr als neue Artikel wären aber Aktualisierungsarbeiten an den bestehenden Einträgen gefragt.
Das grösste Problem ist der Mangel an Frauen. «Wir hätten gerne mehr Autorinnen, die über Frauen und Frauenthemen schreiben», sagt Diego Hättenschwiler. Gemäss verschiedenen Befragungen seien über 80 Prozent der Schreibenden Männer. Es wird weltweit versucht, mehr Frauen zu gewinnen.
Wikimedia Schweiz wie auch andere Chapters organisieren immer wieder Schreibevents, sogenannte «Edit-a-thons». Darunter solche, die sich spezifisch an Frauen richten, um sie als regelmässig schreibende Autorinnen zu gewinnen. Bis jetzt noch nicht mit dem gewünschten Resultat. «Vielleicht ist das Vermitteln von Faktenwissen traditionell eher eine Männersache, Frauen mögen wohl mehr die zwischenmenschliche Kommunikation», sinniert Hättenschwiler.
Ein weiteres Problem sieht er in der Verständlichkeit der Texte. Die könne klar verbessert werden. Auch für Professor Felix Stalder von der Zürcher Hochschule der Künste ist die Wikipedia-Sprache oft «zu geekhaft». Abhilfe könnte zum 20-jährigen Jubiläum ein Erneuerungsprozess schaffen. «Von aussen betrachtet wirkt die Wikipedia-Community recht hermetisch. Es ist wichtig, dass sie sich erweitert.»
Wie kommt Wikipedia in der Wissenschaft an?
Wikipedia trägt als Nachschlagewerk bestehendes Wissen zusammen, schafft selbst aber kein neues. Als Quelle ist sie deshalb in wissenschaftlichen Arbeiten nicht gestattet. Als Quell einer wissenschaftlichen Recherche aber durchaus willkommen.
Am Fusse jedes Artikels finden sich die Inhaltsnachweise, die einen weiterführen können. «Wikipedia kann ein guter Ausgangspunkt für die Recherche einer wissenschaftlichen Fragestellung sein, ist aber ein schlechter Endpunkt», pflegt Professor Stalder seiner Studentenschaft zu sagen.
Die Anerkennung für Wikipedia wächst zusehends in wissenschaftlichen Kreisen. So fand der Editathon anfangs März 2020 unter der Ägide der ETH-Rektorin Sarah Springman statt, die sich als regelmässige Spenderin für Wikipedia zu erkennen gab.
Andere Indizien für die wachsende Akzeptanz sind, dass immer mehr Bibliotheken, Museen und Archive bereit sind, Wikipedia Teile ihres Fundus zugänglich zu machen. So hat auch die Schweizerische Nationalbibliothek Bilder in die Mediendatenbank von Wikipedia hochgeladen. Darunter fand Diego Hättenschwiler eine Luftaufnahme von Kairo, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen mit dem Ägyptischen Museum aus dem Jahre 1904, geschossen vom Schweizer Ballonpionier Eduard Spelterini.
«Ich fügte das Foto in die Wikipedia-Artikel über das Museum auf Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch ein. Andere Wikipedianer fügten es den Artikeln auf Arabisch, Latein, Singhalesisch und Slowenisch hinzu. Bis im Sommer 2020 wurden die Artikel mit dem Foto über 725’000 Mal aufgerufen.»
Ein Bild geht um die Welt. Diego Hättenschwiler lächelt.