Jaron Lanier gilt als profilierter Kritiker des Silicon Valley. Jahrelang war er als Vordenker der Virtual Reality selbst Teil der Szene. Anlässlich des 30-jährigen Geburtstags des World Wide Web spricht der Computerwissenschaftler über den Niedergang des Internets und wie es noch zu retten wäre.
SRF: Was hat Ihrer Meinung nach das Internet kaputtgemacht?
Jaron Lanier: Was das Netz ruiniert hat, ist meiner Meinung nach einfach: ein schlechter Businessplan – die Werbung.
Online-Werbung funktioniert nicht so, wie wir es von Plakaten, Zeitungs-Annoncen oder dem Fernsehen kennen. Bei Online-Werbung wird eine Person konstant überwacht.
Die über die Person gewonnenen Informationen werden von Algorithmen benutzt, um diese Person zu beeinflussen. Es gibt Firmen, die zahlen für dieses System. Firmen, die daran glauben, Menschen verändern, modifizieren zu können.
Das gesamte Geschäft basiert auf Manipulation. Dadurch wird alles unehrlich, hinterhältig, heimtückisch und sehr schnell unmenschlich. Viele Menschen zeigen bei der Internetnutzung Persönlichkeitszüge, die man von Suchterkrankungen kennt. Für mich ist ganz klar: Das ist das Problem.
Womit hat das angefangen? Liegt der Keim des Übels in der Entscheidung für dieses Geschäftsmodell?
Eine Sache ist für mich jedenfalls klar: Das Problem entstand nicht aufgrund eigenmächtiger Entscheidungen einiger weniger Chefs von Firmen wie Google und Facebook.
Der Grund dafür sind zwei völlig widersprüchliche Glaubenssysteme. Das eine ist, dass alles gratis und frei sein sollte. Eine sozialistische Vorstellung vom Internet sozusagen. In Europa fand diese Idee ihren Ausdruck in der Open-Software-Bewegung, die das Betriebssystem Linux hervorgebracht hat. Aber auch in den Piratenparteien und vielen anderen Beispielen.
Dieses Glaubenssystem für sich allein hätte ein ziemlich vernünftiges Internet hervorgebracht.
Leider wurde es aber kombiniert mit einem anderen Glaubenssystem: der Anbetung von Götzen, der Verehrung von High-Tech-Gründern und Superhackern. Es gab diese Überhöhung ins Gottgleiche von Menschen wie Steve Jobs. Das ist einfach unvereinbar: Gottgleiche Firmenchefs haben zu wollen und gleichzeitig auch eine sozialistische Basis für alles.
Die einzige Lösung für diesen Widerspruch war das Werbe-Modell. Wir sagen: «Oh, es ist alles frei und gratis. Teilt, teilt, es ist alles kostenlos, und es ist gut, zu teilen.»
In Wirklichkeit ging es uns nur darum, Geld zu kassieren – und zwar von Leuten, die wiederum hofften, Menschen im Netz manipulieren zu können.
Was schlagen Sie vor, wie dieses Problem gelöst werden könnte?
Es gibt jetzt zwei Wege. Der eine ist es, der sozialistischen Idee des Internets den Vorzug zu geben. Der andere Weg wäre, den kapitalistischen oder libertären Pfad zu gehen.
Wenn wir uns für den sozialistischen Pfad entscheiden, dann würden wir sagen: Das Internet ist gar kein Business. Es sollte eher so etwas wie eine öffentliche Bibliothek sein. Oder wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Also eine öffentliche Institution, die sich durch Steuern finanziert und über demokratische Prozesse verwaltet wird. Das könnte funktionieren.
Aber diese Idee macht mir Sorgen. Der Grund, warum ich nicht herumlaufe und für diese Lösung trommele ist: Das Internet sammelt so viele Informationen über Menschen.
Wissen ist Macht. Und diese Macht wäre so verlockend, dass sie Regierungen destabilisieren würde.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Facebook mehr über die Menschen weiss, als die Stasi damals wusste. Wissen ist Macht. Diese Macht wäre so verlockend, dass sie Regierungen destabilisieren würde. Das mag jetzt wie eine extreme Position klingen, aber ich halte sie für realistisch.
Für die USA könnte das eine Lösung sein, aber wie stellen Sie sich das auf einer internationalen Ebene vor?
Das wäre eben keine Lösung, sondern ein Desaster. Wahrscheinlich würde das Netz auseinanderbrechen in einzelne Nationen. Ich glaube, Verstaatlichung wäre eine mögliche Methode, aber auch eine, die mir Sorgen bereitet. Firmen wie Facebook und Google müssten Teil des Staates werden. Sie sind es ja schon: in China oder in Russland.
Die Lösung ist, das Netz in ein herkömmliches Business zu transformieren.
Das bringt mich zu meiner bevorzugten Lösung. Einige Leute, vor allem die politische Linke, werden damit nicht glücklich sein. Doch ich denke, das ist letztendlich die beste Lösung – selbst wenn sie nicht perfekt ist.
Die Lösung ist, das Netz in ein herkömmliches Business zu transformieren. Ein Geschäftsfeld, bei dem jeder, der etwas nutzt, ein Käufer, ein Kunde ist. Und jeder, der im Netz Informationen bereitstellt, ein Verkäufer. Jeder kauft oder verkauft, wie in jedem anderen Markt.
Schon heute gibt es Internet-Dienste, für die Menschen zahlen, Netflix zum Beispiel. Ein wachsender Konzern und ein erfolgreiches Geschäftsmodell. Eins, bei dem Menschen für etwas bezahlen, das sie theoretisch auch umsonst haben könnten. Aber sie finden, es lohnt sich dafür zu zahlen, weil es ihnen einen guten Gegenwert bietet. Es gibt auch die Meinung, dass dadurch «Fernsehen» als Genre auf ein neues Level gehoben wurde.
Diese Idee, alles im Netz stärker in einen Geldwert zu überführen, würde viele Probleme schaffen: die Konzentration von Macht und Geld bei einigen Wenigen, den Verlust von Arbeitsplätzen aufgrund von Automation.
Vieles am Internet wird ärgerlich, nervig und problematisch bleiben, denn freie Märkte sind so. Aber es ginge im Netz nicht mehr darum, Menschen zu belügen und zu manipulieren. Es ginge dann darum, für Dienstleistungen zu bezahlen. Das ist nicht ideal, aber es ist besser als das, was wir jetzt haben.
Ich verstehe die Idee, die Manipulation der User als Geschäftsmodell abzuschaffen. Aber es gibt Kritiker wie Evgeny Morozov, die sagen: Vielleicht ist es schon zu spät. Vielleicht haben die grossen Firmen schon genug Daten gesammelt.
Das kann man unterschiedlich angehen. Eine Möglichkeit ist, dass Firmen eine Entschädigung schulden für bereits gesammelte Daten. Das ergäbe Sinn. Wenn sie Diebstahl begangen haben, dann sollten sie dafür büssen. Wir reden hier ja nicht über irgendwen, sondern über die profitabelsten, wertvollsten Konzerne aller Zeiten.
Wenn wir die Welt zu einem besser funktionierenden Ort machen, dann ist das auch besser für grosse Firmen.
Und ich schätze diese Firmen wirklich. Ich weiss, das hört sich widersprüchlich an, aber ich habe eine Firma an Google verkauft und im Moment arbeite ich mit Microsoft zusammen. Ich glaube fest daran: Wenn wir die Welt zu einem besser funktionierenden Ort machen, dann ist das auch besser für grosse Firmen.
Schulden zurückzahlen – das wäre ein Weg. Eine Art Lizenzgebühr basierend auf bereits eingesammelten Daten.
Sie sagen, Menschen sollten für ihre Beiträge auf Social Media bezahlt werden. Würde das nicht dazu führen, dass Menschen, die starke Emotionen auslösen oder extreme Meinungen bedienen, gestärkt werden? Etwa die Neue Rechte, die Alt-Right-Bewegung?
Ich habe keine Zweifel: Das kommerzielle Modell würde für eine ganze Reihe von Dingen sorgen, die ich persönlich sehr ärgerlich finde. Es wäre keine perfekte Welt. Aber eine bessere.
Sie haben Tim Berners-Lee, den Erfinder des World Wide Web, stark kritisiert. Dafür etwa, dass Links nur in eine Richtung funktionieren. Jetzt hat Berners-Lee selbst Vorschläge gemacht, wie man das Netz reparieren könnte. Ist das Solutionismus – der Glaube, dass es für alles eine technische Lösung gibt?
Ihm Solutionismus vorzuwerfen, wäre eine unnötige Beleidigung. Ich habe mit Tim über sein Projekt «Solid» gesprochen. In den letzten Jahren wurde immer deutlicher, dass das Internet die Gesellschaft im Stich lässt, dass es Schaden anrichtet und nur weniges besser macht.
Ein Aspekt, auf den sich viele konzentriert haben, waren die Privatsphäre und Kontrolle über die eigenen Daten. Daraus entstanden viele verschiedene Projekte, in Europa zum Beispiel die Datenschutz-Grundverordnung DSGVO.
«Solid» legt den Fokus nun darauf, Menschen eine Möglichkeit zu geben, Kontrolle über ihre eigenen Daten zu gewinnen. Indem man etwa überprüfen kann, ob ein Server vertrauenswürdig ist, bevor man seine Daten übermittelt. Das ist lobenswert.
Aber es geht am Kern des gesamten Problems vorbei. Das Problem ist nicht, dass Daten erhoben werden, sondern wie die Daten verarbeitet und benutzt werden, da liegt das Problem.
Ich halte es für unmöglich, alle Eventualitäten zu bedenken. Der richtige Weg ist meiner Meinung nach, nicht mehr diese schädliche Nutzung von Daten zu belohnen. Natürlich bin ich interessiert an der Idee, die eigenen Daten zu besitzen – damit will ich ja ein Geschäftsmodell bauen.
Tims «Solid» wäre sogar eine exzellente Basis, um die kommerzielle Nutzung von Daten anzutreiben. Meiner Meinung nach ist das aber nur ein kleiner Teil von dem, was gemacht werden muss.
Der wichtigste Teil ist immer noch, die Anreize zu ändern. Es sind immer die wirtschaftlichen Anreize, die bestimmen, was in jedem Markt passiert.
Das Gespräch führte Meike Laaf. Ursprünglich erschien das Interview bei Deutschlandfunk Kultur.