Ab Mitte März war es mit der Schule, wie wir sie kennen, vorbei: Schülerinnen und Schüler waren während Wochen weitgehend auf sich allein gestellt.
Sie mussten sich von einem Tag auf den andern mit neuen Formen des Lernens vertraut machen. Mit neuen Tools Aufträge bearbeiten.
Genauso ging es vielen Lehrerinnen und Lehrern. Bis anhin klappte Unterricht gut ohne viel Technik, nun war man plötzlich auf sie angewiesen. Eine Auseinandersetzung mit digitalen Lernformen war unumgänglich.
Ein Sprung Richtung Zukunft
Was haben die Schulen und die Schülerinnen aus der Corona-Zeit gelernt? Was nehmen sie mit ins neue Schuljahr?
«Die Schule hat einen extremen Digitalisierungsschub gemacht, was man ihr vorher überhaupt nicht zugetraut hätte», bilanziert die renommierte Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm.
«Jede Lehrperson, auch wenn sie Digitalisierungsgegnerin war, hat davon profitiert. Die Schülerinnen und Schüler machten viele neue Erfahrungen. Eltern haben ihre Kinder neu kennengelernt: Sie haben gesehen, wie sie lernen, was für Typen sie sind», so Stamm.
Unterschiede beim Lernen
Wie gut der Unterricht aus der Ferne in der Praxis funktioniert habe, darüber gingen die Meinungen aber auseinander, sagt Margrit Stamm. Befragungen zeigten, wie unterschiedlich gut die Schülerinnen und Schüler zu Hause gelernt hätten.
Stamm zitiert das Schulbarometer: «Das Barometer unterscheidet hauptsächlich zwei Gruppen: Die einen, die abgehängt haben, viele Stunden vor dem Computer oder der Playstation waren und so eigentlich gar nichts gelernt haben. Sie haben die Schule als Ferien betrachtet.»
Die andere Gruppe habe 25 Stunden und mehr pro Woche gelernt, mit einer guten Tagesstruktur, inklusive Sport. «Den Lockdown haben sie nicht als Ferien empfunden – sie lernten sogar mehr als in der Schule: Das ist ein unglaubliches Ergebnis!»
Das Schulbarometer zeigt: Wer vorher schon gut lernte, konnte das in der Regel auch im Fernunterricht. Weiter war entscheidend, wie gut es um die Familienstruktur und die Selbstdisziplin bestellt war.
Es jubeln: die Digital-Euphoriker
Auch unter Lehrerinnen und Lehrern fällt das Fazit nach zwei Monaten Fernunterricht unterschiedlich aus. Viele sehen in der plötzlichen Notwendigkeit des digitalen Unterrichts eine Chance. Etwa Priska Fuchs, die am Kaufmännischen Bildungszentrum in Zug als Sprachlehrerin tätig ist. Sie weibelt seit Jahren für den Einsatz digitaler Mittel im Unterricht.
Wie Margrit Stamm meint auch sie, die Corona-Zeit habe die Schule enorm weitergebracht auf diesem Weg: «Die Schulen haben sich fünf Jahre Schulentwicklung gespart. Gewisse Diskussionen muss man nicht mehr führen, es ist einfach klar.»
Trotzdem war der Fernunterricht auch eine neue Erfahrung für Fuchs. Ihre Klasse sah sie bis zu den Sommerferien nur am Bildschirm. Der digitale Unterricht habe aber insgesamt sehr gut funktioniert.
Das berichten auch die Lernenden. Priska Fuchs verweist zum Beispiel auf die Arbeit ihrer Schülerin Luana. Die Analyse eines literarischen Textes hat diese digital vorgetragen. Ganz selbstverständlich in einer vorgefertigten Präsentation mit gesprochenem Text und Bildern, erstellt mittels eines digitalen Tools namens «Spark» des Herstellers Adobe.
Ihr habe es Spass gemacht, damit zu arbeiten. Sie probiere immer gerne neue Dinge aus, gab Luana später der Lehrerin als Feedback zurück.
Überwachung auch aus der Ferne
Priska Fuchs ist angetan von der Präsentation. Sie weiss nur Gutes zu berichten vom Einsatz zeitgemässer digitaler Hilfsmittel im Unterricht. Auch die Möglichkeiten zur Kontrolle der Lerntätigkeit sieht sie eher positiv als kritisch.
Vielen Eltern stiess während der Corona-Zeit sauer auf, dass ihre Kinder von den Lehrpersonen überwacht wurden. Beispielsweise, indem eine Aufgabe nur während einer gewissen Zeit bearbeitet werden konnte. Oder indem die Lehrpersonen regelmässig die Anwesenheit im Chat kontrollierten.
Priska Fuchs sieht dies pragmatisch: «Klar nutze ich gewisse Überwachungsmöglichkeiten, so erhalte ich etwa interessante Aufschlüsse darüber, wie oft sich jemand eingeloggt hat.»
Das helfe ihr, die Lernenden besser kennenzulernen. «Ich erhalte Ansatzpunkte, um nachzufragen, was nicht geklappt hat, um einem Problem auf den Grund zu gehen, sie zu verstehen. Letztlich geht es nur darum, sie weiterzubringen. Wenn mir diese Analysetools dabei helfen, wieso nicht darauf zurückgreifen?»
Es mahnen: die Digital-Pessimisten
Ein Verrat an den pädagogischen Idealen, so sieht hingegen Alain Pichard die digitalen Kontrollmittel. «Man kann kein Vertrauen entwickeln, keine vertrauensvolle Beziehung und keine Bindung aufbauen, wenn man Lehren und Lernen über Kontrollsysteme organisiert. Man muss sich entscheiden: Arbeitet man als Pädagoge oder als Aufseher?»
Alain Pichard unterrichtet seit über 40 Jahren an der Oberstufe. Eine 8. Klasse in Orpund bei Biel hätte seine letzte sein sollen. Doch er schob die Pension wegen Corona auf.
Pichard hält nicht zurück mit markigen Aussagen: Den forciert digitalen Weg sieht er «als Holzweg».
Seine Erfahrung aus der Zeit im Fernunterricht: Die Anfangseuphorie der «Schule vom Sofa aus» verebbe schnell. «Lernprozesse brauchen immer ein persönliches Gegenüber. Kamera und Mikrofon ermöglichen kein echtes Miteinander. Technisch vermittelte Hilfe ist immer distanziert, unpersönlich, weniger ganzheitlich.»
Eine Art Kulturkampf an Schulen
Es ist an Schweizer Schulen eine Art Kulturkampf entbrannt rund um das digitale Lernen, stellt Erziehungsexpertin Margrit Stamm fest: «Wir haben aktuell zwei Pole: Die Digitalisierungsturbos, die es schon vor der Corona-Krise gab und die sehr weit sind. Andererseits die Besonnenen, teils ältere Lehrpersonen, die sagen: ‹Das mache ich nicht mehr mit.› Das sei nicht mehr Pädagogik, wie sie sie sich vorstellen würden.»
Dieses Dilemma liesse sich nur lösen, indem man das Beste aus der «alten», analogen Welt heraushole und es mit dem Besten aus der digitalen Welt verschmelze.
«Wir haben gemerkt, dass sich Präsenz und Beziehung nicht durch Digitalisierung ersetzen lässt. Präsenz bedeutet in der Schule, in einer Gruppe zu sein, eine Interaktion zu haben, einander in die Augen zu schauen, Mimik zu sehen. Das lässt sich nicht ersetzen», so Stamm.
Dabei sei ein reger Austausch für den Fernunterricht entscheidend. «Je besser die Beziehung zur Lehrperson, desto eher hatten die Kinder in der Zeit des Lockdowns den Eindruck, sie hätten gut gelernt», erklärt Stamm.
Problem Privatsphäre?
Die Beziehung zwischen Lehrpersonen und Lernenden hat sich auch in einer anderen Hinsicht verändert: So viel Einblick ins Private hatten die Lehrer noch nie. Durch die Webcam blickten sie direkt ins Kinderzimmer oder Wohnzimmer jeder Schülerin und jedes Schülers.
Alain Pichard spricht von einer weiteren Problematik neben der Privatsphäre: dem Datenschutz – oder eben dem Mangel daran.
Für ihn ist klar: «Wir haben während der Zeit des Homeschoolings Dinge gemacht, die in Bezug auf den Datenschutz illegal sind.»
Bedenken beim Datenschutz
Es geht etwa um Datenprofile, die die Lernsoftwares von grossen Konzernen wie Microsoft oder Google erheben. Was mit diesen Daten gemacht wird, ist unklar. Das verunsichert viele Lehrkräfte im Umgang mit digitalen Medien.
An der Schule Orpund im Kanton Bern ist deshalb etwa die Verwendung von Whatsapp tabu. Kommuniziert untereinander wird mittels der App «Threema», die als sicherer gilt.
Pragmatischer sieht das die Berufsschullehrerin Priska Fuchs: «Solange die Lernenden Whatsapp nutzen, ist diese Diskussion eh überflüssig. Aber allgemein müssten digitale Tools so reglementiert sein, dass ich mich mit einem guten Gefühl auf sie einlassen kann.»
Vorgaben für Grosskonzerne
Bedenken wegen des Datenschutzes aus dem Weg zu räumen, versucht in der Schweiz die Fachstelle Educa.ch, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen. Sie tut das im Auftrag von Bund und Kantonen. Educa betont die Dringlichkeit, Rahmenverträge mit den wichtigen Anbietern von Lernsoftwares abzuschliessen.
Vor den Sommerferien ist dies mit Microsoft gelungen. Zuvor schon mit Google. Das heisst, die beiden Grosskonzerne akzeptieren die datenschutzrechtlichen Rahmenbedingungen der Konferenz der schweizerischen Datenschutzbeauftragten (privatim). Auch Apple akzeptiert diese Bedingungen, ein weitergehender Vertrag steht allerdings noch aus.
Während der Corona-Zwangspause seien teilweise vorübergehende datenschutzrechtliche Konzessionen gemacht worden, bilanziert Educa. Die durch Schulen so eingeführten Dienste gelte es nun auf eine rechtlich solide Basis zu stellen.
Doch das ist noch nicht alles. Noch diesen Herbst startet Educa das Projekt «Edulog». Mit einem einzigen Login werden Schülerinnen und Schüler so vereinfacht Zugang zu allen von ihnen benutzten digitalen Lernmedien haben – mit besser geschützten Daten. Die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren hatte das Vorhaben im Oktober 2019 beschlossen.
«Keine einmalige Angelegenheit»
Das schweizerische Schulsystem schneidet punkto Digitalisierung bereits heute insgesamt zufriedenstellend ab. Das hat das Schulbarometer auch gezeigt. Im internationalen Vergleich, etwa mit Österreich oder Deutschland, zeigten sich weniger Defizite im Fernunterricht.
Gab die Corona-Zeit der Digitalisierung der Schweizer Schulen nun nochmal nachhaltig Anschub? Ja und Nein, sagt Margrit Stamm. Sie findet für die Zeit des erzwungenen Fernunterrichts einen sportlichen Vergleich: «Die Schweiz musste jetzt acht Wochen sprinten, so gesehen ist das Ergebnis sehr gut.» Würde Corona aber zum Dauerlauf, inklusive einer zweiten Welle, müsse man sich auf den Krisenmodus einstellen, so Stamm.
«Darum sind wir gefordert, dies nicht als einmalige Angelegenheit anzusehen. Wir müssen überlegen, wie man das Schulwesen krisenfester machen und auf modernere Pfeiler aufbauen kann.»
Es braucht nachhaltige Veränderung
Sie habe den Eindruck, die Bildungspolitik wolle nun möglichst schnell zurück zur Normalität. Und dabei «am besten alles, was analog ablief, digitalisieren. Da setze ich ein riesengrosses Fragezeichen.» Denn am Ende ginge der Wandel so kaum über die Einführung digitaler Arbeitsblätter hinaus.
Nötig wäre in ihren Augen eine wirkliche digitale Transformation, die aber Zeit braucht: «Und ich weiss, dass die Lehrerschaft eigentlich keine Zeit dafür hat.»
Tatsächlich scheint es den Schulen aktuell darum zu gehen, wieder gut in den Präsenzunterricht in den Klassenzimmern zurückzufinden. Dennoch drängt die Frage nach dem sinnvollen Einsatz digitaler Hilfsmittel auf eine zufriedenstellende Beantwortung.