«Die Stadt soll nicht den Autoverkehr ermöglichen. Sie ist für das Wohlbefinden und das Zusammenleben der Menschen da», schreibt Lewis Mumford in den 1950er-Jahren. Der amerikanische Architekturkritiker gilt damals als Freigeist – ja als militant – in einer Welt, die auf eines abfuhr: den Alleskönner Auto.
Was Mumford damals im Autoland Amerika in der Grossstadt New York vermisste, beschäftigt heute grosse und kleine Städte auf der ganzen Welt: die Walkability – die Fussgängerfreundlichkeit. Ein Begriff, der dafür steht, dass sich die Städteplanung weniger dem Auto widmen, sondern die Fortbewegung zu Fuss erleichtern soll.
Vorbild Rotterdam
Ein erster Schritt in Richtung Walkability – lange bevor sie zum Schlagwort wurde – war in Europa die Einrichtung von Fussgängerzonen. Vorläuferin war Rotterdam: 1953 wurde mit der Einkaufsstrasse Lijnbaan die erste Einkaufsstrasse Europas eröffnet. Eine Ladenstrasse nur für Fussgänger: Das war damals eine Revolution.
Noch heute ist die Hafenstadt punkto Walkability vielen europäischen Städten voraus. «Rotterdam ist nicht die fussgängerfreundlichste Stadt der Welt, aber eine Vorreiterin, wenn es darum geht, die Stadt so fussgängerfreundlich wie möglich zu machen», sagt der Städteplaner Lior Steinberg.
Verweilen statt eilen
In den letzten zehn Jahren wurde das Zentrum Rotterdams zu einer Fussgänger-Oase umgebaut. Der Name «City Lounge» ist Programm: Entspannt wie in einer Lounge sollen sich Bewohner dort aufhalten – und sich zu Fuss von A nach B bewegen können.
Die Formel für mehr Fussgängerfreundlichkeit scheint simpel: Breitere Gehwege, weniger Autos, mehr Wohnungen für Menschen im Zentrum, weniger Parkplätze und viele attraktive, aufgewertete Plätze, die die Menschen zum Verweilen einladen. Die «City Lounge» soll ein lebendiger Stadtkern sein, der verbindet.
Fussgängerwege als Lebensadern Rotterdams: Dafür steht auch die «Luchtsingel». Die 400 Meter lange Fussgängerbrücke verbindet drei früher vernachlässigte Quartiere, die durch den Verkehr getrennt waren. Die Brücke, die fast gänzlich durch Crowdfunding finanziert wurde, wertet diese wieder auf.
Walkability als Allheilmittel?
Für Steinberg ist klar: Die Förderung von Fussgängerfreundlichkeit zielt auf mehr als zufriedene Fussänger ab: «Rotterdam will fussgängerfreundlich sein, damit die Leute nicht wegziehen», so Steinberg. Denn: Fussgängerfreundliche Städte sind attraktiv. Und attraktive Städte ziehen mehr Menschen – ob Arbeitskräfte oder Touristen – an.
«Fussgängerfreundlichkeit hat viele Vorteile: Sie fördert die Sicherheit, das Wachstum, die Kreativität in einer Stadt», ist Steinberg überzeugt. Die Liste der Vorteile, die Verfechter der Walkability sehen, ist lang. Die kurze lautet: gesündere Menschen, mehr soziale Interaktion, ein besseres Business dank mehr Laufkunden. Und nicht zu vernachlässigen: weniger Autoabgase, die Mensch und Umwelt schaden.
Ein Blümchen, das noch wachsen darf
Für Monika Litscher vom «Verein Fussverkehr Schweiz» ist in der Schweiz noch viel Luft nach oben, auch wenn sich viele Städte hierzulande als fussgängerfreundlich einschätzen: «Der Fussverkehr ist noch ein kleines Blümlein auf dem Feld der Fortbewegung», sagt die Geschäftsleiterin des gemeinnützigen Vereins. Dem Fussgängerverkehr, so Litscher, müsse ein grösserer Stellenwert eingeräumt werden.
Wie sich Schweizer Fussgänger fühlen, kann man bis jetzt nur erahnen. Die verkehrspolitische Umweltorganisation «umverkehR» hat deshalb in einer Bevölkerungsbefragung erstmals detailliert erhoben, wie es Fussgängern und Fussgängerinnen in 16 Schweizer Städten ergeht.
Die Resultate der Umfrage , Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen– ein Teilprojekt des Projekts «GEHsund Städtevergleich Fussverkehr», das «umverkehR» zusammen mit dem Verein Fussverkehr und der Hochschule Rapperswil durchführt – werden bis Mitte 2020 vorliegen. Das Wohl des Fussgänger wird zwar durch eine solche Befragung in den Fokus gerückt, sie kann aber nur als Basis zur Weiterentwicklung der Walkability dienen.
Gemeinsam angehen
Für Monika Litscher ist die Walkability nämlich Teil eines grösseren gesellschaftlichen Wandels: der Verkehrs- oder auch Mobilitätswende, die sich weg vom Autoverkehr Richtung Fuss- und Veloverkehr bewegen soll. Dafür brauche es Unterstützung und ein Umdenken auf verschiedenen Ebenen: Politik, Städtebau, Städteplanung. Und vor allem eins: einen Wandel in den Köpfen.
«Das Auto wurde als cool verkauft. Jetzt muss man das Fussgänger-Sein wieder cool machen», sagt Litscher. Der Fussverkehr, ist Litscher überzeugt, sei das Fortbewegungsmittel der Zukunft. Auch wenn die Schweiz sich in kleinen Schritten auf den Weg macht: Von einem fussgängerfreundlichen Land ist sie noch ein ganzes Stück entfernt.