«Lasst uns endlich wieder unterrichten!» Unter diesem Slogan hat der Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) zusammen mit den Lehrpersonen im März eine Petition lanciert.
Die Gewerkschaft prangert die Arbeitsbedingungen an den Schulen an. Diese machten einen Grossteil der Lehrpersonen krank. Studien hätten gezeigt, dass der Gesundheitszustand von Lehrpersonen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung zu wünschen übrig lasse. «Viele Lehrpersonen sind am Rande der Erschöpfung oder gesundheitlich angeschlagen, bis hin zum Burnout», klagen sie.
Die Gründe laut Gewerkschaften: Budgetkürzungen, schlechte Löhne, überfüllte Klassen, immer mehr Aufgaben. Doch stimmen diese Vorwürfe? Ein Faktencheck.
- Faktencheck 1: «An der Bildung wird gespart»
Es ist die Keule, die am meisten schmerzt: der angebliche Bildungsabbau in der Schweiz. Der Vorwurf treibt Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler sowie auch Eltern immer wieder auf die Strasse zum Demonstrieren.
Der jüngste Protest zum Thema fand Ende März dieses Jahres in Bern statt. «Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Bildung klaut», skandierten die Demonstranten. Bund und Kantone seien von «Sparwut» getrieben und würden so die Bildung untergraben.
Einen eigentlichen Bildungsabbau gibt es nicht.
In der Tat haben in den letzten paar Jahren einzelne Kantone Sparmassnahmen ergriffen, die auch die Bildung und somit die Lehrpersonen getroffen haben. Der Dachverband LCH hat ausgerechnet, dass von 2013 bis 2015 in den Kantonen «Leistungen im Wert von mindestens 265 Millionen Franken abgebaut» worden seien.
Der Bildungsökonom Stefan Wolter relativiert diese Entwicklung: «Einen eigentlichen Bildungsabbau gibt es nicht», sagt er. Wolter ist Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung in Aarau. Er forscht unter anderem zu den öffentlichen Bildungsausgaben im Langzeitverlauf.
Er sagt: «Wenn man die Bildungsausgaben in einem Zeitraum von zehn, fünfzehn Jahren betrachtet, sieht man, dass die Ausgaben pro Schulkind im Durchschnitt stetig gestiegen sind.»
Ein Blick in die Erhebungen des Bundesamtes für Statistik bestätigt dies: 1990 gab die Schweiz 15,8 Prozent der gesamten Staatsausgaben für die Bildung aus. 2015 investierte sie 17,2 Prozent der Gesamtausgaben, wie die jüngsten vorhandenen Zahlen zeigen.
In absoluten Zahlen: Innert 25 Jahren haben sich die Bildungsausgaben von 16 Milliarden Franken auf nahezu 37 Milliarden Franken mehr als verdoppelt.
Mehr Geld pro einzelne Schülerin bedeutet gemäss Stefan Wolter: «Es ist mehr Geld in den Unterricht geflossen, sei es, dass die Klassen kleiner, die Betreuungsverhältnisse besser und teilweise – wenn auch nur in kleinen Schritten – die Lehrerlöhne angehoben wurden.»
Auch in Kantonen, in denen nach der Finanzkrise deutlich gespart wurde, zeigen die Bildungsausgaben im Langzeitverlauf ein Wachstum – auch wenn in den Nullerjahren die Schülerzahlen schweizweit gesunken sind.
Der Kanton Aargau zum Beispiel gab 2009 für die Volksschule 500 Millionen Franken aus, 2014 kletterte dieser Betrag auf 600 Millionen Franken. 2016/17 fielen die Ausgaben leicht unter die 600-Millionen-Marke, doch bereits dieses Jahr ist man wieder deutlich darüber. Die Tendenz der nächsten Jahre laut Planung: weiterhin steigend.
- Faktencheck 2: «Die Klassen sind überfüllt»
Der VPOD verlangt in seiner Petition kleinere Klassen. Die heutigen Klassengrössen von maximal 25 Kindern würden von den Lehrpersonen als «Stress- und Belastungsquellen» empfunden.
Tatsache ist, dass sich die Klassengrössen in der Schweiz im internationalen Vergleich am unteren Level bewegen. Laut aktuellstem Bildungsbericht der Schweiz aus dem Jahr 2014 (der nächste Bildungsbericht erscheint im kommenden Juni) sitzen in einer Klasse der Schweizer Volksschule im Durchschnitt 19,1 Kinder. In den 35 Ländern der OECD sind es signifikant mehr, nämlich 21, 3 Kinder.
Die Forderung nach kleineren Klassen ist politisch noch nie mehrheitsfähig gewesen.
Ähnlich sehen die Relationen bei den Betreuungsverhältnissen aus: Im OECD-Durchschnitt kommen auf eine Lehrperson fast 16 Kinder, in der Schweiz ist es ein Kind weniger.
Silvia Steiner (CVP) lehnt kleinere Klassen rundweg ab: «Diese Forderung ist illusorisch. Sie ist politisch eigentlich noch nie mehrheitsfähig gewesen und wird es auch in Zukunft nicht sein.»
Interessant ist die Verteilung grosser und kleiner Klassen, wie der Bildungsbericht hervorhebt: Diese ist in der Schweiz sehr heterogen. In manchen Gemeinden und Schulen sind die Klassen nur halb so gross wie andernorts; der Anteil der grossen Klassen ist zwischen 1990 und 2010 stark zurückgegangen, während derjenige der kleinen Klassen markant angestiegen ist.
Autor Stefan Wolter bezeichnet die Klagen bezüglich «überfüllten Klassen» als teilweise berechtigt, wenn es um Schulen mit einem Migrantenanteil von 80 Prozent gehe, und wenn dazu noch 25 Schülerinnen und Schüler in einer Klasse seien.
«Doch die Realität ist häufig anders», sagt Wolter, «man ist auf dem Land, hat zehn, zwölf Schulkinder in einer Klasse, und kein einziges davon hat einen Migrationshintergrund.» Es liesse sich einiges an Geld einsparen, analysiert der Ökonom, wenn nur schon die Klassengrössen überall an einen bestimmten Richtwert angeglichen würden.
- Faktencheck 3: «Lehrpersonen sind unterbezahlt»
Der Dachverband LCH beklagt seit Jahren die angeblich schlechten Löhne von Lehrerinnen und Lehrern. Diese seien «deutlich tiefer als diejenigen von Berufsleuten anderer Branchen mit vergleichbaren Anforderungen». Die Lohnsituation im Kindergarten und in der Primarschule nennt der Verband «prekär» und «in vielen Kantonen diskriminierend tief».
In anderen Wirtschaftszweigen wie Finanzdienstleistungen oder Chemie und Pharma seien die Löhne seit 1990 um beinahe 30 Prozent gestiegen. Die Lehrerlöhne jedoch hätten nicht einmal mit der durchschnittlichen Steigerung aller Branchen von 14,4 Prozent Schritt halten können. Doch mit höherer Entlöhnung wäre der Lehrberuf attraktiver, argumentiert der LCH, «und Stellen könnten mit geeignetem und gut ausgebildetem Personal besetzt werden».
Was aber sind «vergleichbare Anforderungen»? Und wie viel ist das auf dem Markt tatsächlich wert?
Wer heutzutage Primarlehrperson werden will, muss ein dreijähriges Bachelor-Studium an einer pädagogischen Hochschule absolvieren. Mit diesem Fachhochschulabschluss in der Tasche verdienen Berufseinsteigerinnen in der Deutschschweiz zwischen 71’400 und 90'800 Franken Jahreslohn (Erhebung der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz D-EDK 2017). Im 11. Dienstjahr klettert der durchschnittliche Jahreslohn einer Primarlehrerin auf 99'700 Franken.
Bis zur Pensionierung steigen die Löhne weiterhin kontinuierlich, wobei die kantonalen Unterschiede beträchtlich sind: Am meisten zahlt der Kanton Zürich mit 140'000, am knausrigsten zeigt sich Graubünden mit 110'900 Franken Maximallohn. Nach der Statistik der D-EDK bezahlt Graubünden das tiefste Salär überhaupt: 60'000 Franken Einstiegslohn bei den Kindergärtnerinnen.
Mit welchen Branchen lassen sich die Löhne von Primarlehrpersonen nun vergleichen? Realistischer als der Vergleich mit der Finanzwirtschaft oder der Pharma-Industrie ist jener mit freien Berufen wie Architekt oder Journalistin oder mit den Gesundheits- und Sozialberufen. Auch hier verfügen die meisten, die diese Berufe ausüben, über mindestens einen Fachhochschulabschluss – doch sie verdienen weniger oder höchstens gleich viel wie Lehrpersonen.
Lehrpersonen würden in anderen Berufen keine viel bessere Situation antreffen.
Bei den Architekten und Bauingenieuren reichen die Einstiegslöhne von 66'500 Franken bis rund 82'500 Franken. Der durchschnittliche Monatslohn eines Journalisten beträgt 6000 Franken. Hebammen (mit Masterabschluss!) verdienen einen mittleren Jahreslohn von 73'000 Franken, Sozialarbeiter (Bachelor) kommen im Durchschnitt auf 85'000 Jahreslohn.
Bildungsökonom Stefan Wolter sagt, bei den Löhnen habe es in den letzten Jahren nirgends grosse Sprünge gegeben, weder im öffentlichen Sektor noch in der Privatwirtschaft. «Das Phänomen der Lohnstagnation hat alle Erwerbstätigen in diesem Land getroffen», bilanziert er. Und: «Würden Lehrpersonen aus dem Lehrberuf aussteigen, so ist anzunehmen, dass sie in anderen Berufen keine viel bessere Situation antreffen würden.»
- Faktencheck 4: «Lehrpersonen müssen immer mehr leisten»
Lehrpersonen monieren, sie müssten immer mehr Aufgaben übernehmen, die eigentlich nicht zum Kerngeschäft des Unterrichtens gehörten. Die Solothurner Heilpädagogin und Kantonspolitikerin Franziska Roth (SP) bringt es auf den Punkt: «Es gibt keinen gesellschaftlichen Bereich, der nicht irgendwie von der Politik als Auftrag an die Bildung gelangt ist, sei es Suchtprävention, sei es Gewaltprävention, Sexualaufklärung, Umgang mit digitalen Medien etc.»
Handkehrum hat diese Entwicklung dazu geführt, dass in Schulhäusern ganz unterschiedlich qualifiziertes Personal zum Einsatz kommt, das den Lehrpersonen bei ausserordentlichen Aufgaben zur Seite steht: schulische Heilpädagoginnen und -pädagogen, Fachleute für Logopädie, Psychomotorik oder Schulsozialarbeit, Klassenassistenzen und Betreuungspersonal für Tagesstrukturen, Schulleiterinnen und -leiter ebenso wie Verantwortliche für Informatik oder Begabtenförderung.
Kurz: So wie die Aufgaben in der Schule mehr geworden sind, hat auch der Support der Lehrpersonen zugenommen. Doch die Lehrpersonen selber vergessen häufig zu erwähnen, dass ihnen ganz viel Arbeit abgenommen wird.
Die Arbeit ist anspruchsvoller geworden, weil die Geschwindigkeit höher geworden ist.
Bildungspolitikerinnen und -experten bestätigen, dass der Lehrberuf anspruchsvoller geworden sei. Doch dies ist kein exklusives Phänomen: Die Dynamiken, die den Lehrberuf erfasst haben, treffen auf die meisten anderen Berufe ebenfalls zu.
«Die Arbeit ist generell anspruchsvoller geworden, weil die Geschwindigkeit höher geworden ist», sagt der Solothurner Bildungsdirektor Remo Ankli (FDP). Man versuche jedoch in seinem Departement, Lehrerinnen und Lehrer nach Möglichkeit zu unterstützen.
Was bleibt schliesslich von den Klagen der Lehrpersonen? Es scheint, dass in dieser Diskussion alle das sehen und sagen, was sie wollen. Die Widersprüche bleiben.
Fakt ist: 20 Prozent der Lehrpersonen sind überfordert. Fakt ist auch, dass die Politik immer mehr Geld für die Bildung ausgibt. Fakt ist auch, dass in gewissen Bereichen trotzdem gespart worden ist. Und Umfragen zeigen, dass die meisten Lehrpersonen, obwohl sie am Limit laufen, ihren Beruf lieben. Und mit keinem anderen tauschen möchten.