Im Herbst 2015 machten sich über eine Million Menschen auf nach Europa. Über die Balkanroute flohen sie vor Krieg und Perspektivlosigkeit. Sie hofften, Schutz zu finden, vielleicht sogar eine neue Heimat.
Wie haben diese Menschen ihre Ankunft in Deutschland und der Schweiz erlebt? Sind sie mittlerweile angekommen? Und konnten sie beruflich Fuss fassen? Zwei Filmemacher und ein Student erzählen.
Malek Ossi, Student aus Syrien
Malek Ossi erinnert sich genau an den Moment, als er in der Schweiz angekommen ist: «Da habe ich einen Anruf bekommen, dass ich aufgenommen bin. Das war ein unglaublich schönes Gefühl!» Doch erst, als er an der Universität ein Studium beginnen durfte, fühlte er sich so richtig angekommen. Denn da wusste er: «Jetzt habe ich eine Zukunft.»
Unterdessen studiert Malek Ossi seit einem Jahr Soziale Arbeit in Luzern und wohnt mitten im Zürcher Langstrassenquartier. In der Schweiz ist er seit fünf Jahren.
2015 floh er über die Balkanroute aus Syrien in die Schweiz. Er erzählt, wie er auf der Flucht festgenommen wurde. In einer Gruppe waren sie unterwegs von der Türkei nach Griechenland. Im Regen warteten sie versteckt unter einer Autobahnbrücke, bis der Lastwagen kam, der sie weiterbringen sollte.
«Absurderweise hielt der Lastwagen mitten auf der Autobahn an, die Menschen sind alle hingerannt. Die, die es schafften, waren froh. Die anderen mussten zurückkehren. Nach 20 bis 30 Minuten Fahrt hörte ich dann plötzlich ein Polizeiauto und als der Polizist die Tür öffnete, sagte er: ‹Oh my God, Tsunami!›» Dieser griechische Polizist habe ihn nicht als Person gesehen, sondern als Teil einer namenlosen Masse. Und als solcher sei er den Launen der europäischen Migrationspolitik ausgesetzt gewesen.
Dieser Kontrollverlust ging für Malek Ossi auch in der Schweiz weiter. An das Asylverfahren erinnert er sich nicht gerne. Für ihn war es geprägt von Misstrauen. So musste er zum Beispiel für alles, was er kaufte, die Quittung zeigen, als ob er stehlen würde. Es habe sich angefühlt, als ob sich niemand für ihn interessiere.
Erst als er in Kursen, die von Freiwilligen organisiert wurden, Deutsch lernen konnte, habe er ein Stück Selbstbestimmung zurückgewonnen. Über die Sprache habe er gelernt, wie die Schweiz funktioniere, Bildung habe ihn befreit.
Malek Ossi hat letztendlich Asyl bekommen. Das Asylverfahren kritisiert er aber stark. Er habe vier Jahre auf seine Aufenthaltsbewilligung gewartet. Diese Jahre fühlten sich für ihn wie verloren an.
Denn für ihn bedeute Ankommen, sich mit der eigenen Zukunft auseinandersetzen zu können. Das war erst wieder möglich mit der Perspektive auf ein Studium, als er also sein Schicksal wieder selbst in die Hand nehmen konnte.
Zuvor habe er schon einmal über seine eigene Zukunft bestimmt. Am 5. September 2015, genau vor fünf Jahren, noch auf der Balkanroute, war er Teil des sogenannten «March of Hope» in Budapest – inzwischen ein historisches Ereignis.
Er erzählt, wie er am Bahnhof Budapest zusammen mit 5000 anderen Geflüchteten nicht mehr weitergekommen sei. Daraufhin hätten sie entschieden, auf eigene Faust loszuziehen: «Die Menschen haben uns immer wieder gefragt, wohin wir gehen und ich habe immer gerufen: ‹Nimsa, Nimsa!› Nimsa heisst auf Arabisch Österreich. 70 Kilometer sind wir gelaufen. Die Polizei hat immer wieder versucht, uns anzuhalten, aber wir haben den Glauben an die Polizei verloren. Diesen Moment kann ich nicht vergessen, er erinnert mich ein bisschen an die Revolution in Syrien: Jetzt können wir über uns selbst bestimmen!»
Als Malek Ossi Syrien verliess, war er 22. Jetzt, fünf Jahre später, ist er 27. Und erst heute, mit einer beruflichen Perspektive, ist er in der Schweiz angekommen. Stolz endet er: «Ich bin kein Asylsuchender mehr. Ich bin Mensch, ich bin Malek. Ich kann morgens früh aufstehen, einen Kaffee trinken, ein bisschen lesen. Ich bin ein freier Mensch, ich bestimme selbst über mich.»
Hassan Fazili und Fatima Husseini, Filmemacher aus Afghanistan
Es ist Frühling, als die Familie 2018 Deutschland erreicht. «Es war überwältigend. Ich wollte am liebsten schreien: ‹Wir sind angekommen! Wir sind am Leben! Wir sind noch alle zusammen!› Was das bedeutet, kann nur ein Geflüchteter verstehen», beschreibt Hassan Fazili seine Erinnerung ans Ankommen.
Drei Jahre lang war Hassan Fazili auf der Flucht. Zusammen mit seiner Frau Fatima Hussaini, ebenfalls Filmemacherin und Schauspielerin, und den kleinen Töchtern Nargis und Zahra.
Die Flucht hat die Familie auf dem Smartphone festgehalten. Daraus ist der mehrfach ausgezeichnete Dokfilm «Midnight Traveler» entstanden. Ein Film, der zeigt, was es bedeutet, in der Welt ein Vertriebener zu sein. Die Flucht sei eine Reise an die Schwelle zur Hölle gewesen, so das Ehepaar.
Fatima Husseini sagt, sie sei dankbar, endlich in Sicherheit zu sein. Mit Zeigefinger und Daumen deutet sie eine kleine Lücke an: «Aber die Schwelle zum Paradies, die haben wir noch nicht erreicht.» Und ihr Mann schiebt nach: «Die Schwelle zur Hölle – wir sind noch nicht daran vorbei.»
Während der ersten eineinhalb Jahre seien sie von den deutschen Behörden wie ein Ball von einer Stadt in die nächste geworfen worden, so Fazili. Hamburg, Bochum, Mönchengladbach, Oedingen. In dieser Zeit lebten sie in ständiger Angst vor einer Abschiebung. Ihr Asylgesuch wurde zunächst abgelehnt. «Wir fühlten uns wie ein Blatt, das von einem Baum fällt, in der Luft umhergewirbelt wird, ohne zu wissen, wo es landet», so der Filmemacher.
Gelandet sind sie in Lennestadt, ein winziger Ort in der sauerländischen Provinz. Hier haben sie eine Aufenthaltserlaubnis. Die Angst vor der Abschiebung ist weg.
Selbstbestimmt leben können sie aber noch nicht. Ihr Alltag sei von ihrem Aufenthaltsstatus geprägt. «Wir werden vor allem als Geflüchtete wahrgenommen und nicht als Filmschaffende, als Vater, als Schauspielerin oder Mutter», so Fazili.
Ein Satz, den die Familie immer wieder zu hören bekommt, verdeutlicht das: «Hier ist Deutschland!»
«Die Leute, die den Satz sagen, denken, das sei ein normaler Satz. Aber dieser Satz ist nicht normal. Denn er bedeutet: ‹Halt dein Maul.› Er bedeutet: ‹Wir verstehen, du verstehst nichts!›»
Es sei eine subtile Aufforderung zur Unterwerfung, meint Hassan Fazili und schlägt den Bogen zurück nach Afghanistan. Hätte er sich unterwerfen, gehorchen wollen, dann wäre er in Afghanistan geblieben. Er habe nicht diese lange Flucht auf sich genommen, um hier den braven, dankbaren Geflüchteten zu spielen.
Für Hassan Fazili, den Filmemacher, der sich den Taliban entgegengestellt hatte, ist Sich-Ducken keine Option. Sicher halte er sich an die Gesetze, aber er wolle ein selbstbestimmtes Leben für seine Familie
Als Flüchtlinge, ja, da seien sie angekommen. Aber als Berufsleute? Als Bürger? Hassan Fazili sagt, das komme noch.
Es ist Mittag geworden. Die Eheleute stehen in der Küche und bereiten das Essen zu, als die ältere Tochter Nargis nach Hause kommt. Seit knapp eineinhalb Jahren geht sie in Deutschland zur Schule, 6. Klasse. Hat sie das Gefühl, angekommen zu sein? «Ich bin froh, dass wir in Deutschland, dass wir in Sicherheit sind. Aber es fühlt sich noch nicht so an, als seien wir angekommen.»
Nargis erzählt, auf der Flucht hätten die Eltern mit ihr und ihrer Schwester viel über die Zukunft gesprochen, um sie von der Gegenwart abzulenken. «Sie sagten uns immer: Wisst ihr, unser Ziel ist die Zukunft.»
Es sei ein Spiel gewesen, sich diese Zukunft auszumalen, so Nargis. «Wenn uns langweilig war, oder wenn wir traurig waren, dann haben wir uns von unseren Wünschen erzählt: Wie wir unser Zimmer einrichten werden, dass wir uns einen grossen Platz zum Fussballspielen wünschen. Während der Flucht dachten wir, sobald wir in Deutschland angekommen sind, dann wird alles auf einmal einfach gut. Aber das Ankommen war schwer. Trotzdem: Ich glaube immer noch, dass wir es schaffen.»
Nargis ist froh über die Gegenwart. Aber die erträumte Zukunft – sie ist noch nicht da.