Mathis Vass: Dancer in the Dark
Es ist erst 22 Uhr, aber schon tiefe Nacht, als wir mit dem Rad durchs Basler Industriegebiet fahren. Vorbei an schummrigen Autokarosserien und Eisenwarenhändler, hinein in pechschwarzes Niemandsland: Sundgau. Da, wo sich die Schweiz an Frankreich schmiegt und langsam in den Corona-Schlaf schlummert.
«Achtung auf die Schlaglöcher», warnt Vass, der ein Stück weiter vorne fährt, und allmählich von der Dunkelheit der Nacht umhüllt wird. Über uns ziehen Helikopter Kreise, wir kommen zu einem aufgegebenen Grenzposten. «Die Franzosen mögen die Kälte nicht so gerne», sagt Vass, dessen Stimme ein willkommener Wegweiser ist.
Tanzen zum Biorhythmus
Vass ist ein Mensch der Nacht, vielleicht fährt er deshalb so zielsicher ins schwarze Loch hinein. Die Dunkelheit ist jetzt vollkommen, keine Strassenlichter bieten mehr Orientierung, die Nacht verschluckt uns, und lässt erst wieder ab, als wir die Tür zu Vass' Atelier in Hégenheim öffnen.
Vass legt eine Platte auf, «The Pinch» von Albert King, schnürt die Rollschuhe und beginnt, Figuren auf das Laminat in der Ecke der Halle zu tanzen. Vass und die Nacht, das ist wohl eine natürliche Verbindung.
Seit 30 Jahren, seit er das erste Mal den Fuss ins Wohlgroth-Areal in Zürich setzte und die Sauvages-Partys in den besetzten Häusern erlebte, weiss er darum.
Und doch mag Vass nicht gross über die Nacht philosophieren. Sie ist einfach da und er auch, und irgendwie passen sie ganz gut zusammen. «Ich liebe die Nacht, aber sie gibt mir keine besondere Energie. Sie versetzt mich auch nicht in einen besonderen Bewusstseinszustand. Ich tanze einfach gerne und ich lasse mich von meinem Biorhythmus treiben. Das ist alles.»
Frühstück am Mittag
Sein Biorhythmus gibt Vass vor, irgendwann gegen Mittag aufzustehen und sich ein herzhaftes Frühstück angedeihen zu lassen. Um 15, 16 Uhr stellt er sich ein erstes Mal vor seine Bilder. Riesenhafte Gemälde, manche schon seit Jahren im Entstehungsprozess.
Es sind Vergrösserungen aus seiner Serie «Blow-Up», Bleistift-Zeichnungen, vom Briefmarkenformat bis A6, die Vass beidhändig im Écriture-automatique-Verfahren erschafft, einem Zustand zwischen Wachen und Träumen.
Dann kommt der Abend, kommt die Nacht. Für Vass die beste Zeit. Und innerhalb der besten Zeit ist die allerbeste Zeit zwischen 1 und 4 Uhr. «Vor eins ist es zu früh, nach vier sind die Gäste oft zu betrunken.»
Die Vermessung des Nachtlebens
Vor nicht allzu langer Zeit war er nachts wieder auf den Rollschuhen unterwegs, nur ein bisschen rumschnuppern, guckte von draussen in ein Lokal, reckte ein bisschen den Hals. Da erblickte ihn einer der Türsteher und winkte ihn verzweifelt herbei: «He, Mathis, wir brauchen dich auf der Tanzfläche, es herrscht tote Hose!›»
Der gebürtige Zürcher ist in Basel bekannt wie ein bunter Hund. Auf einer grossen Stadtkarte hat er alle Orte des Nachtlebens eingezeichnet, an denen er schon mit Rollschuhen aufgetaucht ist.
Vass demonstriert einen Slalom-Kurs, vorwärts, rückwärts, Nähmaschine, umgekehrte Nähmaschine. Auf dem Tisch, zwischen Notizblättern, Pinseln, Bohrmaschinen, liegt ein Ringbuch. Seite für Seite ist es gefüllt mit Rollschuh-Figuren, gemalt mit farbigen Filzstiften, vom einfachen Slalom-Kurs bis zur hochkomplexen Studie.
Noch sitzen die Figuren nicht perfekt, die Fusssohle muss sich zuerst ans Schuhwerk gewöhnen, sagt Vass, muss Wurzeln schlagen mit dem Leder und dem Boden.
Der Nachtzug hält in Dachsheim
Oben, auf einer Galerie, befindet sich das Ewigkeits-Projekt: Eine Modelleisenbahn im Massstab 1:160, ein fiktiver Miniatur-Bahnhof, Spurbreite N, irgendwo in Süddeutschland. «Dachsheim» steht auf dem Ortsschild.
Vor 15 Jahren hat er mit dem Bau begonnen, in der Nacht setzt er sich manchmal hin, bepinselt die zahnstochergrossen Weichensignale und hebt mit der Pinzette behutsam Schottersteine von der Grösse von Globuli in das Geleisebett. «Fertig werde ich wohl nicht mehr», sagt Vass, nachsichtig mit sich und der Zeit.
Halb zwei. Vass' Füsse stecken noch immer in Rollschuhen. Als wir zum Rauchen vor die Tür gehen, rollt er. Während man ruhig und fest auf seinen Füssen steht, pendelt er sanft hin und her. Man möchte Vass noch eine Frage stellen zum Sternenhimmel, dem weiten, der jetzt während Corona noch mehr Fluchtraum ist als sonst, aber Vass' Pendelbewegungen haben eine einschläfernde Wirkung.
Vass hat einmal gesagt, wenn es Ausserirdische gebe, dann machten sie bestimmt auch Kunst. Vielleicht fahren sie auch Rollschuh in der Nacht.
Musu Meyer: In der Dunkelkammer des Rauschs
20 Uhr, an einem Tag Mitte Dezember, als Bars und Restaurants in Zürich noch bis 19 Uhr offen bleiben durften. Musu Meyers Hand zittert noch immer leicht. Die Schmier war vorhin hier, zehn Minuten nach der Corona-Sperrstunde, und dann hämmert es eine Stunde später doch tatsächlich wieder an der Tür und ein herrisches «Kantonspolizei!» schallt durch den Raum.
Musu Meyer – blondes Haar, schwarz geschminkte Augen, Alter unbestimmt – wirtet seit 20 Jahren hier, aber, sagt sie, so nervös wie jetzt sei sie selten gewesen. Der vermeintliche Kantonspolizist stellt sich zum Glück als Mitarbeiter heraus, grosses Gelächter, ein paar Flüche, und ein «Menu» zur Beruhigung von Meyers Nerven: Weisswein und ein Wodkashot.
Im Heimathafen der Nachtschwärmer
Das «Meyer's» ist eine Institution im Zürcher Nachtleben. Wer jemals um drei Uhr morgens plötzlich eine trockene Kehle hatte, landete im «Meyer's». Wer in der letzten Bar den metaphorischen Stiefeltritt empfangen hatte, aber immer noch durstig war, landete im «Meyer's». Und alle anderen Nachtschwärmerinnen schwemmte es früher oder später auch hier rein.
Musu Meyer nannte ihre Bar einmal «unsere dunkle kleine Heimat». Jetzt sind die Öffnungszeiten Corona-bedingt derart gekröpft, dass es eigentlich nur noch zum Lachen ist: 17 bis 19 Uhr. «Heute hat doch tatsächlich jemand eine Cola bestellt!», sagt Meyer ungläubig. «Im Meyer's!»
Wo die Zigaretten und das Rotlicht brennen
Ein Einhorn-Kopf hängt an der Decke, ein FC-Bayern-Wimpel hinter dem Tresen, das Licht ist maximal gedimmt und leicht rotstichig: Als hätte jemand zum Umtrunk in der Dunkelkammer geladen.
Meyer zündet sich die nächste Gauloise an und redet über ihre Tochter, ihre Besessenheit von Bayern München, ihre Schwester Beatrice Meyer, mit der sie die Bar seit 20 Jahren führt – ein Wunder, eigentlich.
Der Philosoph Hans Blumenberg hat sinngemäss einmal geschrieben, wenn man dem Unheimlichen einen Namen gebe, verliere es seinen Schrecken. Und so wurden die schrillsten und bizarrsten Gestalten, die das «Meyer's» im Lauf seiner 20-jährigen Existenz beehrten, mit Namen ausgestattet.
Granaten-Bartli etwa, der einmal in aller Ruhe eine Handgranate auf den Tresen legte und drohte, alles hochzujagen. Oder Pistolen-Heinz, der Meyer einmal in der vollen Bar etwas Hartes an die Hüfte drückte, sodass sie gehörig erschrak – bis sie realisierte, dass es eine Pistole war, und noch mehr erschrak.
Oder Trenchcoat-Bruno, einstmals gut verdienender Bankmann, der eines Abends mit Musu im «Meyer’s» tanzte und dann in einen teuflischen Strudel geriet, der drei Jahre später mit dem Tod endete. Musu sagt mit einem traurigen Lächeln: «Ich habe eine gewisse Wirkung auf Männer.»
Kreis des Nachtlebens
Eigentlich funktioniere der Kreislauf so, sagt Meyer: «Ich schenke den Menschen Alkohol aus, sie machen komische Sachen, ich höre mir ihre Geschichten an, mache daraus Lieder, trage diese Lieder wiederum den gleichen Menschen vor, und schenke ihnen dazu Alkohol aus.» Mit ihrer Band «Sein» trägt sie wunderschöne Moritate und Schanklieder vor. Vielleicht hat sie damit das Perpetuum mobile erfunden.
Musu erzählt, dass sie als Kind nicht schlafen konnte. Irrationale Ängste hielten sie davon ab, die Augen zu schliessen und zu träumen wie die anderen Kinder. Und am nächsten Tag war sie dann sterbensmüde.
So ging das immer weiter. Also erfand sie sich neben dem Gesang und der Musik irgendwann einen Job, der ihr das erlaubte, was sie brauchte: spät ins Bett, lang schlafen. Die Idee fürs «Meyer's» war geboren.
Der Schlaf lässt sich nicht mehr nachholen
23 Uhr. Fanni, ihr Hund, bellt plötzlich hinter dem Vorhang. «Sie riecht das Böse», sagt Musu. Auch durch Türen und Wände. Bald legt sich Fanni wieder auf die Sitzbank schlafen, träumt vom Guten, vermutlich. «Fanni ist noch schlimmer als ich, sie kann auch nicht aufstehen.»
Meyer sagt von sich, wenn sie weniger als neun Stunden Schlaf kriegt, sei es nicht so gut. Sie könne gar nicht mehr so viel schlafen, dass es all die durchzechten und durchwachten Nächte aufwiegt. Nicht einmal, wenn sie bis zu ihrem Lebensende nur noch im Bett liegen würde.
Halb zwölf. Eine Frage vielleicht noch. Ihr Alter? Das bleibe ein Geheimnis, sagt Meyer geheimnisvoll. Manche Geschichten müssen auch in der Nacht nicht erzählt werden.
Philipp Theisohn: Nachts im Bermuda-Dreieck
Von Napoleon sagt man, er habe nur vier Stunden Schlaf gebraucht. Auch Philipp Theisohn braucht nur so viel. Aber im Gegensatz zum Kaiser und Feldherrn ficht Theisohn seine Schlachten in der Nacht und in Einsamkeit aus.
«Die Nacht ist eine riskante Zeit. Man kommt mit sich selber ins Gespräch, stürzt in die eigenen Abgründe, erlebt Siege und Niederlagen», sagt Theisohn, 46, seit einem Jahr Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich und so etwas wie ein Popstar des Lehrbetriebs. Das liegt auch an seiner Umtriebigkeit. Und die wiederum, so vermutet man je länger desto mehr im Lauf des Gesprächs, hängt nicht zuletzt mit seinem Schlaf-, und Wachverhalten zusammen.
Erst das Tagwerk, dann das Nachdenken
Wir sitzen in Theisohns Büro im Deutschen Seminar, es ist kurz nach 20 Uhr. Noch immer sind Geräusche zu vernehmen, vereinzelt brennt Licht in den Büros. Theisohn trägt einen schwarzen Kapuzen-Pullover und Dr.-Martens-Schuhe.
Er sagt, wer Geisteswissenschaft betreiben wolle, müsse in der Nacht arbeiten können: «Das ist eine pragmatische Sache: Erst wenn das Tageswerk abgeschlossen ist, die Verwaltung erledigt, kann ich mich meinen eigenen Gedanken widmen.»
«Auch Kafkas Werk ist nächtlich»
«Auch die Literatur ist ohne die Nacht nicht denkbar», erklärt Theisohn und deutet auf das Büchergestell an der Wand: Schuber an Schuber reihen sich die Klassiker der deutschen Literatur und Philosophie.
«C.F. Meyers albtraumhafte Nächte auf dem See, Gottfried Benns Kokain-Nocturne, Georg Trakls ‹zerbrochene Stirne der Nacht› – alles Wege, die man einmal beschritten haben sollte. Und auch Kafkas Werk ist nächtlich durch und durch.» Kafka zwangen die Umstände, in der Nacht zu schreiben: Tagsüber arbeitete er als Sekretär in einer Versicherung – sein «Brotberuf», wie Kafka schrieb.
In der Nacht wird die Stadt dämonisch
Hinter Theisohns Rücken zeichnet sich ein Lichtermeer ab, die riesige Fensterfront gibt den Blick frei auf das nächtliche Zürich. Theisohn, zu dessen Interessen die Erforschung des Weltalls gehört, spricht vom «Dämonischen», das die Stadt in der Nacht ausstrahle und vom Risiko, das auf sich nimmt, wer in den Nachtstunden dem Schlaf trotzt.
«Das Grossartige an der Nacht ist ja die Ungewissheit. Wenn ich eine Nachtschicht mache, schreibe, nachdenke, die Nacht in mich hereinlasse, ist das wie eine Reise ins Bermuda-Dreieck. Ich weiss nie, ob ich als derselbe herauskomme.»
Nachts kommen wir ins Gespräch
Früher habe er problemlos zwei, drei Nächte durcharbeiten können, sagt Theisohn. «Mittlerweile muss ich dem Alter manchmal Tribut zollen.» Gleichwohl ist er der Meinung, etwas mehr kreative Schlaflosigkeit würde vielen Menschen guttun.
«Wäre ich ein Lebensratgeber-Autor, ich würde den Menschen raten, länger wach zu bleiben – damit sie mit sich selber ins Gespräch kommen.» Aber das sei ein Kampf gegen Windmühlen, sehe man sich doch einem aussichtslosen Gegner ausgeliefert: Netflix, dem «Killer» der tiefgründigen Nacht.
In einer Ecke des Büros steht ein kleiner Kühlschrank, ein paar Bücher sind nachlässig auf ihn gestapelt. Zu gerne wüsste man, ob sich darin flüssiges Aufputschmittel verbirgt, Wachmacher für die Nachtschicht.
Aber Theisohn winkt ab. «Die Nachtschichten finden meist zuhause statt, hier im Seminar bleibe ich nur manchmal so lange.» Also kein Red Bull im Kühlschrank? «Nein, Jack Daniels.»