Wann haben wir Freunde nötiger – wenn es uns gut oder wenn es uns schlecht geht? Das hat sich bereits der griechische Philosoph Aristoteles gefragt. Die Antwort darauf ist einfach: Wir brauchen sie immer.
Freunde machen glücklich und gesund
«Wer keine Freundinnen und Freunde hat, stirbt früher.» So bringt es Lisa Wagner, Persönlichkeitspsychologin an der Universität Zürich, auf den Punkt. «Studien zeigen, dass die Sterblichkeit ohne Freunde und ohne soziale Verbundenheit etwa gleich hoch ist, wie wenn man 15 Zigaretten pro Tag raucht – und sogar höher als bei Alkoholkonsum.» Freundschaften sind wichtig für die Gesundheit und ein langes Leben.
Warum? «Man findet, entdeckt und entwickelt sich im Gespräch mit seinen Freunden», sagt Theologe Joachim Negel, der über die kulturgeschichtliche Dimension von Freundschaft ein Buch geschrieben hat. «Wer bin ich, wenn keiner mit mir redet? Dann bin ich nichts.» Ähnlich habe es der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber gesagt: «Der Mensch wird am Du zum Ich.»
Kollegen, Kumpel, Seelenverwandte
Aristoteles Schrift der «Nikomachischen Ethik» gilt als eines der bedeutendsten Werke über Freundschaft. Darin denkt der Philosoph über die Grundlagen des Lebens nach. Er unterscheidet drei Arten von Freundschaft: «Die erste ist das, was man heute vielleicht als Arbeitskollegen bezeichnet», sagt Theologe Joachim Negel.
«Aristoteles nennt sie die amicitia utilis, die nützliche Freundschaft.» Das sei ein Kreis von Leuten, mit denen man ein Bier trinke oder am Wochenende wandern gehe. Sie diene einem klaren Ziel: Im Beruf erfolgreich zu sein.
Die zweite Art nennt Aristoteles die amicitia delectabilis: «Das sind Freundschaften, bei denen man Spass haben möchte. Man geht zusammen in den Kegelclub oder in den Sportverein.» Im Unterschied zu den Berufskollegen suche man sich diese Freunde gezielt aus.
Die dritte Kategorie ist die amicitia honesti, die aufrichtige Freundschaft: «Es ist die Freundschaft der vorzüglichen Menschen. Da klingt man in einer ganz tiefen Weise zusammen», sagt Negel. «Die Welt wird weit und schön. Das sind Menschen, denen vertraut man sein Intimstes an.»
Es sind jene Menschen, die wir als beste Freundinnen und Freunde bezeichnen. Während man von den anderen Freundschaften unzählige haben kann, haben wir nur wenige derart enge Freundschaften. «Die emotionale Nähe ist stark ausgeprägt, einhergehend mit einem gegenseitigen Verständnis», erklärt Persönlichkeitspsychologin Lisa Wagner. Diesen Freunden vertraut man sich in Notlagen an.
Wie entstehen Freundschaften?
Wie finden wir einen Freund, eine Freundin? «Freundschaft wird von beiden bewusst gewählt», so Psychologin Wagner. «Nur wenn sich beide als Freunde bezeichnen, ist es auch eine Freundschaft.»
Wie viele Freunde der Mensch brauche, sei individuell. Die Anzahl sei jedoch nicht massgebend: «In grossen Meta-Analysen sieht man, dass es entscheidend ist, überhaupt einen Freund oder eine Freundin zu haben. Das senkt zum Beispiel das Risiko, an Depressionen zu erkranken.»
Das sei in Studien erwiesen: «Man kann natürlich auch an einer Depression erkranken, wenn man sehr viele sehr gute Freunde hat. Aber Freunde können das Risiko in einem gewissen Grad etwas abfedern, weil sie Unterstützung bieten in schwierigen Momenten des Lebens.»
Die Kultur beeinflusst die Freundschaft
Wie eine Freundschaft gelebt werde, seian den kulturellen Kontext gebunden, sagt Theologe Joachim Negel. Das verdeutliche dieses Beispiel aus dem arabischen Raum: Freundschaften unter Männern würden dort anders gelebt als im Westen.
«Es gibt ein verstörendes Bild, auf dem der damalige US-amerikanische Präsident George W. Bush mit König Abdullah von Saudi-Arabien Händchen haltend im Garten des Weissen Hauses spaziert.» Während dies in Saudi-Arabien eine alltägliche Geste darstelle, sei das im Westen unter heterosexuellen Männern eher unüblich.
Freundschaft macht den Menschen aus
Das früheste Zeugnis einer Freundschaft findet sich im Gilgamesch-Epos, einem rätselhaften Text aus altbabylonischer Zeit. Darin wird die Freundschaft beschrieben zwischen Gilgamesch, dem König von Uruk, und Enkidu, einer mythischen Figur.
«Gilgamesch ist ein Staatsgründer, eine Art Riese mit ungeheuren Kräften. Aber er ist einsam und dann findet er Enkidu», erzählt Theologe Joachim Negel. Enkidu mache Gilgamesch überhaupt erst zu einem menschlichen Wesen. «Denn im Gespräch mit Enkidu entdeckt sich Gilgamesch als der, der er ist.»
Auch in einer Liebesbeziehung erkennt man sich selbst. Was ist denn der Unterschied? Das sei tatsächlich schwer festzumachen, erklärt Psychologin Lisa Wagner. «Wenn man in den Lehrbüchern schaut, wird Freundschaft meistens abgegrenzt durch die Abwesenheit von sexueller Interaktion. Aber nur meistens.» Denn es gebe auch Freundschaften, in denen Sexualität vorkomme.
Ein Unterschied sei ausserdem die Exklusivität: Freundschaften pflegt man in der Regel mehrere, Liebesbeziehungen meist eine. «Letztlich gibt es sehr viele Überlappungen, was den Austausch, die Nähe und vielleicht die Gefühlswelt angeht: Man kann ähnliche Gefühle der Liebe auch bei Freunden und Freundinnen empfinden.»
Männer- und Frauenfreundschaften
Die Geschlechter gehen Freundschaften unterschiedlich an – auch das bestätigt die Forschung: «Viele Studien haben untersucht, welche Erwartungen Männer und Frauen an Freundschaften haben. Da gibt es tatsächlich Unterschiede», so die Psychologin.
Frauen erwarteten höhere emotionale Nähe. Männer möchten gemeinsam Aktivitäten unternehmen. Also ganz dem Klischee entsprechend? «Das ist nur eine Aussage über den Mittelwert. Selbstverständlich gibt es Männerfreundschaften, die sehr nah und intim sind und Frauenfreundschaften, die auf gemeinsamen Unternehmungen beruhen.»
Schwierig wird es, wenn in einer Freundschaft nicht beide gleich empfinden. Zum Beispiel, wenn man sich mit jemandem des anderen Geschlechts befreundet und beide heterosexuell sind. «In gegengeschlechtlichen Freundschaften haben Männer tatsächlich häufiger als Frauen die Erwartung, dass sich vielleicht mehr daraus ergibt. Ob vielleicht doch noch eine romantische Beziehung daraus wird. Das ist wissenschaftlich erwiesen.»
Ein Freund für jeden Lebensabschnitt?
Die Gabe zur Freundschaft wird uns in die Wiege gelegt. «Ab dem Alter von zwei bis drei Jahren zeigen Kinder gewisse Präferenzen im Spiel mit anderen Kindern», sagt Lisa Wagner von der Universität Zürich. «Studien belegen, dass sie von Gleichaltrigen, mit denen sie sich besonders identifizieren, viel lernen.» Von Freunden ahmten sie eher Dinge nach als von anderen Gleichaltrigen.
Im Jugendalter lösten Freundinnen und Freunde die Eltern ab als wichtige Gesprächspartner. Zugleich würden Jugendliche von ihren Freunden beeinflusst – positiv wie negativ. In der Schule bildeten sich viele Freundschaften, die auch im Erwachsenenalter noch Bestand hätten.
Und: Freundschaften dienen als Übungsfeld. «In ihnen trainiert man früh wichtige Fähigkeiten, die man später in romantischen Beziehungen braucht», erklärt Lisa Wagner.
Ob Kleinkind, Teenager oder Erwachsener: In jeder Generation gilt, dass man Freundschaften pflegen muss. Gerade in der Phase einer neuen Liebe oder der Familiengründung vernachlässigen manche Freundschaften. «Wenn nicht beide Freunde in der gleichen Phase der Entwicklung stecken, kann dies schmerzhaft sein», sagt Lisa Wagner. «Um eine Freundschaft zu halten, muss man den Alltag so gestalten, dass sie darin Platz hat.»
Freundschaften können ob solcher Lebensunterschiede auseinandergehen. Anders als eine Liebesbeziehung hören Freundschaften meist schleichend auf, nicht mit einer klaren Trennung.
Dennoch gibt es auch Freundschaften, die durch einen Konflikt enden: «Dann kann man ganz ähnliche Gefühlsprozesse durchlaufen, wie wenn eine romantische Beziehung zu Ende ist.» Man empfinde vielleicht Wut und Trauer.
Freundschaft ist wichtiger als Status
Bei Freundschaft spielt das Alter keine Rolle. Sie funktioniert über Generationen hinweg. Auch die gesellschaftliche Stellung ist nicht entscheidend. Davon zeugt das Beispiel der tiefen Freundschaft zwischen der berühmten jüdischen Schriftstellerin und Diplomatenfrau Rahel Varnhagen und der Gesellschafterin Pauline Wiesel.
Die zwei Frauen lebten während der deutschen Romantik, einer Epoche, die Freundschaften zu einem Lebensgefühl erhoben hat. «Rahel Varnhagen war ausserordentlich gebildet», sagt Theologe Joachim Negel.
«Pauline Wiesel war, etwas böse gesagt, eine Kokotte, die ausserordentlich freizügig lebte, und darin das genaue Gegenteil von Rahel Varnhagen. Doch die beiden haben sich gerade in ihrer Unterschiedlichkeit gefunden, weil jede in der anderen fand, was ihr fehlte.»
Auch das ist Freundschaft: Die andere Hälfte seiner Seele finden.