Wundersame Heilungen müssen nicht zwingend etwas mit Religion zu tun haben. Das beweist der boomende Markt esoterischer Heilpraktiken.
Gerade am Forschungsstandort Schweiz mit einer weltweit führenden Pharmaindustrie reüssieren Heilerinnen und Heiler. Handauflegen boomt. Und die Schulmedizin gesteht mitunter sogar ein: «Wer heilt, hat recht.»
Inmitten einer hochtechnisierten Gesellschaft wie der unsrigen, die ganz auf Rationalität gebaut scheint, setzen Menschen auf Wunder. Ob das der modernen Medizin und Theologie nun passt oder nicht.
Der Onkologe Herbert Kappauf aus München findet sogar, die Wissenschaft sollte Spontanheilungen endlich ernst nehmen. In der Placebo-Forschung ist «der Glaube» schon lange ein Faktor.
Der Wunderglaube: Er ist oft stärker als der Vernunftglaube. Denn auch wenn die offizielle Kirche, studierte Imame und promovierte Rabbiner vor Aberglauben warnen: Wallfahrten an Wunderorte werden in allen Glaubensrichtungen praktiziert.
Über die Glaubensgrenzen hinweg
Gräber christlicher Heiliger, jüdischer Zaddikim, also grosser Rabbiner, wie auch grosser Imame und Sufisten sind von jeher Anziehungspunkte für Gläubige. Menschen platzieren ihre Wünsche etwa auf den Gräbern sogenannter Wunderrabbis in der heutigen Westukraine.
Solche Orte ziehen interessanterweise auch Angehörige anderer Glaubensrichtungen geradezu magisch an. Das kann man auch in der Schweiz beobachten.
Auf dem jüdischen Friedhof zwischen Endingen und Lengnau etwa liegt Rabbiner Raphael Ris. Sein Grab wird seit bald 200 Jahren von Menschen aus der ganzen Region besucht. Auch Nicht-Juden platzieren hier Zettelchen mit ihren Wünschen und Nöten.
Und zum Kloster Mariastein pilgern nicht allein Katholikinnen und Katholiken. Auch Kirchenferne und fromme Hindu-Tamilen bitten die Schwarze Madonna um Hilfe.
«Gracias Maria!»
Im langen Treppenhaus hinab zur Grotte mit der Marienstatue sind hunderte Votivtafeln zu sehen. Sie sind klassischer Ausdruck für Wundererfahrungen im christlichen Volksglauben. Darauf bedanken sich Menschen bei der Heiligen, dass sie gesund wurden, eine gute Arbeit oder ein Kind bekommen haben: «Gracias Maria!», «Maria hat geholfen».
Interreligiöse Wunderorte finden sich an allen Enden der Erde. Ein anderes Beispiel findet man im südsibirischen Tuwa: Dort leben Anhänger des Schamanismus und Buddhismus friedlich zusammen. Gemeinsam verehren sie heilige Quellen, Steine und Bäume. Buddhistinnen und Naturreligiöse bringen ihre Opfergaben an dieselben Orte.
Sie schmücken heilige Bäume mit bunten Stoffstreifen. Von den Geistern der Natur oder ihrer Vorfahren erhoffen sich Menschen Gesundheit, Kindersegen und Wohlstand.
Zum Schamanen gehen in Tuwa jetzt wieder viele, die Not haben, auch russisch-orthodox Getaufte. Jahrzehntelang hatte der Staatsatheismus der Sowjetunion solchen Wunderglauben bekämpft. Ausrotten konnte er ihn nicht.
Wunder oder zumindest der Glaube daran sind also nicht totzukriegen: nicht mit orthodox-religiöser Lehre, nicht mit modern-aufgeklärter Theologie und auch nicht mit rationalistischer Staatsdoktrin. Wunderglaube bleibt ein erstaunlich religions- und kulturenübergreifendes Phänomen. Vielleicht ist Wunderglaube ja auch einfach etwas «allzu Menschliches».
Ein Amt im Vatikan, das Wunder zertifiziert
Kaum eine Kirche hat den Volksglauben so gut im Griff wie die römisch-katholische Kirche. Sie integrierte den Wunderglauben in ihr Lehrgebäude. Etwa beim Feststellungsverfahren, ob ein Mensch wirklich ein heiligmässiges Leben geführt hat.
Das dauert mitunter Jahrhunderte und führt im Erfolgsfall zur Selig- und Heiligsprechung. So heisst auch das dafür zuständige Amt im Vatikan. Es definiert eine Wunderheilung als medizinisch nicht erklärbare, aber nachgewiesene Heilung, die aufgrund der Fürbitte einer Heiligen erfolgt sei.
Gegen abergläubischen Wildwuchs
Ärzte und Kirchenpersonal untersuchen alle Wunderheilungen auf Nachhaltigkeit. In Lourdes zum Beispiel arbeitet dafür ein eigenes medizinisches Büro.
Am grössten Marienwallfahrtsort der Welt sollen sich gegen 7000 Heilungswunder zugetragen haben. Davon anerkennt die römisch-katholische Kirche aber nur 70.
Es braucht zwei nachgewiesene Wunder, damit Rom jemanden als heilig, also vorbildlich im Leben und nun nahe bei Gott, anerkennt. Für die Schweizerin Marguerite Bays, die Wunderheilungen vollbracht haben soll, wurde das im Herbst 2019 festgestellt.
Jesus, der grösste Wundermann
Von niemandem aber erzählt die Bibel so viele Wundergeschichten wie von Jesus. Er speiste tausende Menschen mehr als vor ihm der Prophet Elisa. Er trieb hunderte Dämonen aus. Und laut der Evangelien erweckte Jesus Menschen sogar wieder zum Leben. Das hatte keiner so vermocht.
Die universitäre Theologie Westeuropas versuchte diese Wunder bereits im 18. Jahrhundert zu rationalisieren. Jesu Heilungswunder wurden nun als Mythen abgetan und daraufhin grad ganz «ent-mythologisiert». Jesus wurde nicht mehr als von Gott bevollmächtigter Heiler gezeichnet, sondern als neuzeitlicher Therapeut.
Das Auferstehungswunder – erklärbar?
Auch für Jesu «Verschwinden» wurden diverse Theorien entwickelt. Diese drifteten mitunter selbst ins Abstruse ab: Etwa die Erklärung, Jesus sei eben gar nicht tot gewesen, sondern zusammen mit Maria Magdalena nach Indien durchgebrannt. Doch auch diese Story löst das intellektuelle Problem nicht.
Einen Ausweg aus diesem modernen Dilemma bot schliesslich der Schweizer Theologe Karl Barth. Für ihn ist das «leere Grab» Jesu, das die Frauen am Ostermorgen vorfanden, nur der «historische Rand» des Auferstehungswunders.
Die Auferstehung Jesu könne man nicht nachprüfen und brauche sie auch gar nicht wissenschaftlich zu beweisen, meinte Barth: Die Auferstehung sei historisch empirisch sowieso nicht zu erweisen. Diese grösste und überraschende Heilstat Gottes sei ohnehin nur im Glauben nachvollziehbar.
Wunder als Elendsphänomene
Seit ein paar Jahrzehnten schaut die historisch-kritische Theologie wieder respektvoller auf die Wundererzählungen der Bibel. Sozialwissenschaften und Colonial Studies hielten Einzug in die Theologie
So zeuge Jesu «Speisungswunder der Fünftausend» vom gigantischen Hunger um ihn herum. Die Gesellschaft um Jesus war von der römischen Besatzung ausgezehrt und traumatisiert worden.
Das erzeugte «Wut im Bauch» des unterdrückten und hungernden Volks, schreibt die Schweizer Neutestamentlerin Luzia Sutter-Rehmann.
Auch die vielen Dämonen, welche das Neue Testament bevölkern, könnten etwas mit dieser paralysierten Gesellschaft rund um Jesus zu tun haben. Dämonen könnten dann als posttraumatische Belastungsphänomene interpretiert werden und wären als solche ernst zu nehmen.
Aus solcher Not können eben «nur noch Wunder retten». Wunder verweisen demnach auf ungerechte Verhältnisse, die Menschen gefangen halten.
Wunder zeigen, was nicht in Ordnung ist
Wunder hingegen befreien. Respektive Gott. Denn Gott erklärt sich darin als nicht einverstanden mit bedrückenden Lebensverhältnissen.
Die Wunder im Neuen Testament zeigen auf, was nicht in (göttlicher) Ordnung ist. Sie kehren Machtverhältnisse um. Und das macht Wunder im wahrsten Wortsinn «revolutionär».
Von daher ist es auch «kein Wunder», dass der Wunderglaube insbesondere in den Hungerländern Afrikas wie auch in gewaltgeprägten Staaten Südamerikas stark ist. So gesehen muss man also nicht an Wunder glauben – wohl aber den Menschen, deren Not zum Himmel schreit.