Es ist der 10. November 1382, auf den Jurahängen bei Solothurn liegt bereits der erste Schnee, und einige Bauern der Region suchen deshalb die Gaststuben auf, um sich zu wärmen. So auch Hans Roth, Bauer aus dem bernischen Rumisberg. Im Gasthof Schlüssel in Wiedlisbach hat er sich hinter den Ofen gesetzt – und wird damit unfreiwilliger Zeuge einer Unterhaltung, die Folgen haben wird.
Denn der verschuldete Graf Rudolf von Kyburg trifft sich dort mit seinen Verbündeten: Sie hecken einen Schlachtplan aus, wie sie Solothurn am besten angreifen können. Schulden bedrücken den jungen Graf; die reiche Stadt Solothurn soll ihm dabei helfen, seine Schuldenlast zu tilgen. «Plötzlich entdecket einer der Männer den Bauern hinter dem Ofen, und will ihn sogleich abstechen wie ein Tier», erzählt die 93-jährige Solothurnerin Elisabeth Pfluger, welche die Geschichte von Hans Roth zusammen getragen hat.
Harmloser Bauer?
Die anderen Männer lachen jedoch über den Bauern und glauben nicht, dass dieser ihnen und ihrem Plan gefährlich werden könnte. Sie lassen ihn laufen, unter einer Bedingung: «Er darf keiner lebendigen Seele davon erzählen, was er mitgehört hat», erklärt Pfluger. Ein Versprechen, das Hans Roth gerne gibt. Die Männer ahnen nicht, dass der listige Bauer sie noch in derselben Nacht übertölpeln wird.
Hans Roth denkt nämlich nicht daran, nach Hause zu gehen. Er will ins zwölf Kilometer entfernte Solothurn und die Bürger warnen. Doch wie? Im frisch gefallenen Schnee würden die Männer seine Spuren erkennen, sobald sie aus dem Gasthof kämen.
«Hans Roth entscheidet sich, seine Holzpantoffeln auszuziehen und verkehrt herum an seine Füsse zu binden. So sieht es aus, als ob jemand von Solothurn her kommt – statt umgekehrt», erzählt Pfluger mit einem schelmischen Lachen.
Listiger Bauer!
Vor den Toren Solothurns angekommen, bricht Roth sein Versprechen, «keiner lebendigen Seele vom Überfall zu erzählen» jedoch nicht: Er spricht zum steinernen St. Urs, der Statue, die über dem Eichentor prangt – wissend, dass hinter dem Tor jemand seine Worte hören wird. Und tatsächlich: Der Torwächter hört den Bauern und kann Alarm schlagen. Als sich die Kyburger Solothurn nähern, bemerken sie, dass die Stadt bereits alarmiert ist.
«Es gibt nicht viele solche Männer oder Frauen, die so viel Mut haben, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, um andere Leben zu retten», resümiert Pfluger. Sie hat in ihrem Leben unzählige Geschichten und Sagen aus dem Kanton Solothurn zusammen getragen: «Ich habe nicht viele Geschichten gefunden, in denen eine Person derart heraus sticht durch ihre Taten.»
Ehrenkleid und Ehrensold – bis heute
Das war sich damals auch die Stadt Solothurn bewusst, und schenkte Hans Roth daraufhin ein Ehrenkleid und einen Ehrensold von 94 Talern. Noch heute erhält der Älteste der Hans-Roth-Nachkommen diesen Ehrensold: 1000 Franken im Jahr. Auch das Ehrenkleid existiert immer noch, wenn auch in neuerer Ausführung.
Mittlerweile kümmert sich gar der Kanton Solothurn um diese Aufgabe. «Hans Roth zeigte grossen Mut», erklärt Staatsschreiber Andreas Eng. Wie stark Roth damals für seine Zivilcourage gelobt worden war, sei schwierig zu sagen: «Hans Roth war wahrscheinlich vor allem froh, dass er mit seinem Leben davon gekommen ist.»
Der aktuelle Ehrenkleider-Träger und älteste Nachkomme von Hans Roth ist Eduard Roth, wohnhaft in Solothurn. Viel weiss er nicht mehr über seinen berühmten Vorfahren. «Er war ein einfacher Mann», sagt Eduard Roth. «Aber was er damals getan hat, das war natürlich super», meint der 86-Jährige. Er ist stolz, ein Nachfahre von Hans Roth zu sein, und trägt das Ehrenkleid an verschiedenen Anlässen des Kantons Solothurn: «Ich bin ein Stück dieser Geschichte und hoffe, dass ich dieses Ehrenkleid noch lange tragen darf.»