Als Dürrenmatt einmal gefragt wurde, was für ihn Humor sei, erzählte er, statt sich in theoretische Abhandlungen zu versteigen, eine harmlose Anekdote. Er schilderte, wie er, einst in Bern auf dem Weg zu einer philosophischen Vorlesung an der Universität in einen Hundehaufen trat und darauf ausrutschte, nur um dann, zwei Stunden später, auf dem Rückweg der Vorlesung, noch einmal auf dem exakt selben Hundedreck auszurutschen.
Der erstaunte Blick des Gärtners, der ihn, die Platanen stutzend, bei beiden Malheuren beobachtet hatte, diese Fassungslosigkeit darüber, dass ein Mensch zwei Mal in denselben Hundedreck treten kann, das sei für Dürrenmatt Humor.
Der Unterschied zwischen Literatur und Komik
Die Anekdote ist bekannt und wurde schon oft erzählt. Aber dass Dürrenmatt in dieser Geschichte stets en passant darauf hinwies, dass er eine Vorlesung für Philosophie besuchte, zeigt meines Erachtens noch exakter, wo Dürrenmatts Humorverständnis verankert ist: Nämlich in der diebischen Freude über die Tatsache, dass der Mensch auch nach einer Philosophie-Vorlesung, einer ernsthaften akademischen Auseinandersetzung mit den existenziellen Fragen der eigenen Sinnhaftigkeit also, nicht wirklich schlauer geworden ist und wieder wortwörtlich in dieselbe Scheisse trampelt.
Das ist der grosse Unterschied zwischen Komik und Literatur: Ein Mann, der in Hundescheisse tritt – das ist Komik. Ein Mann aber, der direkt von einer Philosophie-Vorlesung kommt und in Hundescheisse tritt – das ist Literatur.
Dramatisches zum Lachen
Ich habe viel Humor konsumiert, schon als Kind: Emil, HD Läppli, Gardi Hutter, Kliby und Caroline. Aber niemand hat mein Verständnis über den Zusammenhang von Sprache und Komik, von Boshaftigkeit und Nonchalance, so nachhaltig geprägt wie Dürrenmatt.
Zu meinem 16. Geburtstag schenkte mir meine Mutter die komplette Werkausgabe von Friedrich Dürrenmatt. 38 Bände, zwei Schober, knappe sieben Kilo Diogenes-Taschenbücher.
Obwohl ich mich heute am liebsten stundenlang in Dürrenmatts Prosa suhle, waren es die dramatischen Werke, in denen mir sein Humor am logischsten schien: Am meisten gelernt über Humor bei Dürrenmatt habe ich in den zugänglichen Stücken «Die Physiker», «Der Prozess um des Esels Schatten» – und vor allem in «Die Panne».
Bei den Physikern ist es die Einsicht, dass sich Komik oder – in einer exakteren Form – die Satire, weder erfinden noch behaupten muss, sondern dass die effizienteste, die faulste, und somit eleganteste Satire dadurch entsteht, dass man die Realität einfach nacherzählt. Denn die Welt wird automatisch zum Irrenhaus, die Menschen ganz von selbst zu Irren, indem wir sie einfach zitieren.
Bei «Esels Schatten» war es die Freude an der Eskalation über eine scheinbar lapidare Detailfrage, die in unlösbarer Tragödie gipfelte.
Das Publikum an die Hand nehmen
«Die Panne» schliesslich ist meines Erachtens das perfekte Anschauungsbeispiel für einen gelungenen Kabarettabend: Wie dort in volltrunkener Heiterkeit ein feuchtfröhlicher Herrenabend zum Selbstjustizkommando wird. Wie Recht und Unrecht lediglich Verhandlungssache von Worten wird. Wie Wahrheit zur Knetmasse von Formulierungen wird.
Das ist es, was richtig gute Satire ausmacht: Das Publikum an der Hand nehmen, es mit kleinen Witzen, ein wenig Pathos und viel Wein dialektisch von Argument zu Argument führen, bis sich dieses Publikum, plötzlich ganz alleine, vor einem offenen Fenster stehen sieht und sich unverhofft entscheiden muss, ob es nicht gerechter für den Lauf der Welt wäre, zu springen.
Dürrenmatt, ein Komiker?
Dürrenmatts Literatur hat auch sehr viel mit der klassischen Pointendramaturgie von Komikerinnen gemeinsam. So wie Dürrenmatt in seinen Stoffen stets die schlimmstmögliche Wendung suchte, genau so ist ein Komiker auch stets auf der Suche nach der besten, also schlimmstmöglichen Pointe.
Der amerikanische Stand-Up-Comedian Louis C.K. sagte einmal: «Immer, wenn mir ein ganz furchtbar bösartiger Gag einfällt, denke ich: Das werde ich niemals öffentlich auf einer Bühne sagen können. Gleichzeitig weiss ich genau, dass ich es ganz sicher auf einer Bühne sagen werde.»
Die Möglichkeit der Katastrophe
Dürrenmatts kindliche Freude an der steten Möglichkeit der Katastrophe, diese kriminelle Energie, für eine einzige Pointe seinen besten Freund zu verraten, ist das, was einen guten Komiker ausmacht.
Ob er sich im Fernsehen über einen kleinen Tischbrand freut oder sich darüber amüsiert, Dramaturgen mit Helvetismen zu provozieren: Die Begeisterung für die Katastrophe, ohne in Wertung zu verfallen, ist die Essenz dieses Humors.
«So, meine Kleine...»
Zum Schluss noch meine Lieblingsanekdote, die das ganz exemplarisch zeigt: Eine Bekannte von mir war als kleines Kind mit ihrer Familie zu Besuch bei Friedrich Dürrenmatt in den Hügeln über Neuenburg.
Nach dem Abendessen nahm Friedrich Dürrenmatt das Mädchen auf den Arm und ging mit ihm zum Fenster. Unten glitzerte der Neuenburgersee. Doch statt den See und die romantische Abendstimmung staunend zu beschreiben, soll Dürrenmatt gelächelt und mit Freude gesagt haben: «So, meine Kleine. Jetzt wollen wir mal sehen, ob vielleicht ein Schiff untergeht!»