1996 begibt sich Eva Koralnik auf die Suche nach Harald Feller: Dem Mann, der sie und ihre Mutter Berta einst gerettet hat. Sie findet seinen Namen im Telefonbuch: «Ich habe ihm einen Brief geschrieben: ‹Dürfen wir Sie treffen, damit Sie uns unsere Geschichte erzählen?›.»
Es droht die Deportation
Rückblick ins Frühjahr 1944: Die Nationalsozialisten marschieren in Ungarn ein. Innerhalb weniger Monate registrieren, verschleppen und ermorden sie mehrere hunderttausend Jüdinnen und Juden. Eva Koralnik ist damals sieben Jahre alt und ihre Mutter mit dem zweiten Kind schwanger. Es soll im August 1944 geboren werden.
Der Ehemann von Evas Mutter Berta, Willi Rottenberg, ist bereits ins Arbeitslager abkommandiert worden. Weil sie durch die Heirat mit ihm – er ist ungarischer Staatsbürger – ihr eigenes Schweizer Bürgerrecht verloren hat, droht auch Berta Rottenberg die Deportation.
Ein juristischer Coup
Im Sommer 1944 wendet sie sich deshalb an Harald Feller. Er ist Jurist und Legationssekretär bei der Schweizer Gesandtschaft in Budapest. Obwohl die Schweizer Gesetzgebung damals eine Wiedereinbürgerung nur verwitweten und geschiedenen ehemaligen Schweizerinnen zusteht, stellt er ihr eine Schweizer Identitätskarte aus. Auf dieser setzt er das positive Ergebnis der Bürgerrechtsprüfung voraus.
Ein juristischer Coup, der Berta Rottenberg, ihren Töchtern und drei weiteren ehemaligen Schweizerinnen das Leben rettet. Ausserdem erwirkt Harald Feller bei den ungarischen Behörden ein Ausreisevisum und – was damals besonders schwierig ist – bei den deutschen Besatzern die Ausstellung eines Durchreisevisums.
Noch kurz vor der Flucht bringt Berta Rottenberg am 15. August 1944 ihr zweites Kind Vera zur Welt. Um sie nicht noch mehr in Gefahr zu bringen, verschleiert Feller die Religionszugehörigkeit von Mutter und Tochter und notiert auf der Geburtsurkunde «reformiert» statt «jüdisch».
Unerkannt in der Gestapo-Zentrale
Am 4. Oktober 1944 flieht die Gruppe um Familie Rottenberg durch das von Deutschland besetzte Österreich in die Schweiz. Sie verbringen eine Nacht im berüchtigten Wiener Gestapo-Hauptquartier. Die Deutschen ahnen damals nicht, dass sie Jüdinnen beherbergen.
Zwei Tage später, am 6. Oktober 1944, betritt die Gruppe Schweizer Boden – vorerst als Flüchtlinge. Es soll noch Jahre dauern, bis sie sich wieder einbürgern lassen dürfen.
Eva Rottenberg – später heisst sie Koralnik – wird Übersetzerin und leitet die renommierte Literaturagentur Liepman in Zürich. Ihre jüngere Schwester Vera Rottenberg Liatowitsch wird Juristin und 1994 eine der ersten Bundesrichterinnen der Schweiz.
Im Gespräch sagt Vera Rottenberg Liatowitsch über ihre Erfahrungen: «Jeder lebt mit seiner Geschichte, und meine war von Unrecht geprägt. Mein Bedürfnis ist, dass sich das nicht wiederholt.»
Retter, Gefangener, Held
Harald Feller übernimmt in den letzten Kriegsmonaten die Geschäftsleitung der Schweizer Gesandtschaft. Als ihn die Sowjetrussen am 16. Februar 1945 in einen Hinterhalt locken und nach Moskau entführen, erklären ihn die Berner Behörden vorerst für verschollen. Zu dieser Zeit unterhält die Schweiz keine diplomatischen Beziehungen mehr zur Sowjetunion, weshalb nun alle Informationskanäle fehlen.
Obwohl von Feller jede Spur fehlt, beauftragt der neu gewählte FDP-Bundesrat Max Petitpierre einen Staatsanwalt mit einer administrativen Untersuchung zum Fall Feller. Denn in der Schweizer Presse konnte man zuvor lesen, die Gesandtschaft in Budapest sei im Krieg durch pro-nazistisches Verhalten aufgefallen.
Ein Diplomat unter Verdacht
Harald Feller habe sich mit ungarischen, faschistischen Pfeilkreuzlern eingelassen, ihnen sogar unerlaubt Visa für die Schweiz beschafft. Was heute seltsam anmutet: Er wird auch der Homosexualität und des übermässigen Alkoholkonsums bezichtigt. Max Petitpierre will wissen, ob diese Vorwürfe mit Fellers Verschwinden zusammenhängen.
Es sollen weitere Monate vergehen, bis der Angeklagte selbst dazu Stellung nehmen kann. Erst im Januar 1946 kommt Feller im Rahmen des «Wicharew-Abkommens» und im Austausch gegen einen internierten russischen Piloten frei.
Im Schatten eines anderen
Die humanitären Rettungsaktionen von Harald Feller werden im Abschlussbericht zwar erwähnt. Die eng gefasste Fragestellung habe aber verhindert, dass sie angemessen gewürdigt wurden, schreibt der Historiker Peter Haber in seinem Aufsatz «Auch Harald Feller rettete».
Für ihn stand Harald Feller immer im Schatten von Carl Lutz, der mehreren Zehntausenden Jüdinnen und Juden, die nach Palästina weiterreisen wollten, Schweizer Schutzpässe ausstellte.
Zementierte Neutralität
Der fehlende positive Nachhall liegt für den Historiker Sacha Zala auch am nahezu hochstilisierten Narrativ von politischer Neutralität. Da sich die Schweiz im Zweiten Weltkrieg den Vorwurf habe gefallen lassen müssen, sie hätte von der neutralen Haltung profitiert, folgt nach 1945 die Staatsräson nun der Neutralitätsräson.
«Wenn die Neutralität das Narrativ ist, um einen Rechtfertigungsdiskurs gegenüber den Alliierten zu konstruieren, dann durfte sie in keinster Weise infrage gestellt werden», sagt Zala. «Selbst dort nicht, wo man eigentlich Gutes gemacht hat.»
Während beispielsweise Länder wie Schweden nach dem Krieg zugegeben hätten, mit dem Dritten Reich kollaboriert, gleichzeitig aber auch Gutes getan zu haben, habe die Schweiz ihre Neutralität zementiert und zelebriert, meint Zala.
Unter dieser Doktrin war Harald Feller – zumindest in den Nachkriegsjahren – ein Heldenstatus nicht vergönnt.
Ein später Ehrentitel
Zwar wird das Verfahren gegen ihn eingestellt mit den Worten: «Nach den Erhebungen des Unterzeichneten hat Harald Feller durch sein wagemutiges, aber auch gefährdevolles Handeln über dreissig Menschen dem Zugriff der Pfeilkreuzler entziehen können. Und wenn Harald Feller noch bis in die jüngste Zeit hinein als ‹Naziprotektor› bezichtigt wird, so muss dies gerechterweise als Verleumdung bezeichnet werden.» Doch wirklich rehabilitiert wird Harald Feller dadurch nicht.
Wenige Jahre nach dem Krieg scheidet Feller ganz aus dem diplomatischen Dienst aus und wird Staatsanwalt in Bern. Zu stark wirken die Erlebnisse der russischen Gefangenschaft nach.
Nach seiner Pensionierung widmet er sich seiner Leidenschaft, dem Theater. In den 1970er- und 1980er-Jahren inszeniert er mit Häftlingen der Strafanstalt Thorberg im Kanton Bern siebzehn Theaterstücke.
Erst am 6. September 1999 wird er von Yad Vashem mit dem Ehrentitel «Gerechter unter den Völkern» geehrt. Diese Auszeichnung ist die höchste, die der israelische Staat an nichtjüdische Menschen vergibt. Harald Feller stirbt am 28. Dezember 2003 in Bern.