Sie haben die ersten 14 Jahre Ihres Lebens mit Ihrer arabisch-türkischen Familie in Norddeutschland verbracht. Seit 12 Jahren wohnen Sie in der Türkei. Wie unterschiedlich erleben Sie die Türkei und Deutschland?
Yosef Şimşek: Das sind zwei Welten, die sich nicht miteinander vergleichen lassen. Für mich am deutlichsten zeigt sich dies daran, wie man innerhalb der Familie miteinander umgeht. In Deutschland dürfen Kinder ihre Gefühle zeigen. Sie dürfen eine eigene Meinung haben. In der Familie, in der ich aufwuchs, gab es das nicht. Wenn ich ein Problem hatte, interessierte das niemanden. Ich galt bei meinem Vater und meinen Brüdern als Weichei, nur weil ich als Sechsjähriger mit einem Plüschtier spielte.
Sie beschreiben in Ihrem Buch eindrücklich, wie Sie von Ihrem patriarchalen Vater und Ihren Brüdern über Jahre geschlagen und gedemütigt wurden. Wie verbreitet sind solche Familienstrukturen in der heutigen Türkei?
In den arabisch geprägten Familien der Türkei geht es meistens so autoritär und brutal zu und her, wie ich es erlebt habe. In den Familien, wo Türkisch gesprochen wird, gibt es beides: konservativ-patriarchalische Milieus, aber auch westlich-liberale.
Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie unterschiedlich Sie etwa die Familien oder das Schulsystem in der westlichen und in der arabisch-türkischen Kultur erleben. Empfinden Sie die Türkei dennoch als Teil von Europa?
(Lacht) Überhaupt nicht. Die Türkei und die EU sind sehr verschieden. Es ist in meinen Augen auch nicht weiter erstaunlich, dass es zwischen den Ländern Meinungsverschiedenheiten gibt.
Wie offen wird in Ihrem Umfeld über Politik diskutiert?
Im Privaten ziemlich offen. Auch auf Social Media findet man bisweilen pointierte Aussagen. Anders wäre es, wenn man etwa in den Medien den Präsidenten offen kritisieren würde. Dann würde man schon Probleme mit den Behörden bekommen.
Dennoch erzielt der Präsident Recep Tayyip Erdogan mit seiner Partei, der islamisch-konservativen AKP, bei Wahlen Mehrheiten. Wie ist dies zu erklären?
Viele Menschen sehen in Erdogan noch immer den erfolgreichen Reformer. Bevor er 2003 Ministerpräsident wurde, gab es in der Türkei für die Menschen kaum Perspektiven. Viele flohen. Auch meine Eltern gingen damals nach Deutschland. Unter Erdogan ist der Lebensstandard gestiegen. Heute ist in der Türkei ein normales Leben möglich. Zu Erdogans Popularität trägt zudem bei, dass er der Religion wieder mehr Platz einräumt. Frauen dürfen heute wieder eine Schule betreten, auch wenn sie ein Kopftuch tragen. Der Laizismus von Staatsgründer Atatürk hat sich stark aufgeweicht. Und dies gefällt vielen, wie übrigens auch die stolze Männlichkeit, die der Präsident ausstrahlt.
Die EU hat der Türkei Visafreiheit in Aussicht gestellt, wenn diese syrische Flüchtlinge zurücknimmt und zudem mehr Demokratie und Pressefreiheit zulässt …
Diesen Vertrag lehne ich ab. Da werden die Flüchtlinge als Pfand für politische Zwecke missbraucht. Die EU und die Türkei sollten andere Wege finden, um Probleme zu lösen.
Als was fühlen Sie sich heute mehr – als Deutscher oder als Türke?
Als Deutscher. Ich habe die ersten 14 Jahre meines Lebens dort verbracht. Sie haben mich geprägt. Hinzu kam, dass ich am Anfang in der Türkei nicht akzeptiert wurde: Ich konnte kein Türkisch. In meiner Familie wurde ja Arabisch gesprochen.
Sie sind derzeit in Berlin auf Lesereise. Was vermissen Sie aus der Türkei?
Das schöne Wetter. Sonst nichts.