- Patrick «Karpi» Karpiczenko (Autor und Regisseur): Brief an Elon Musk
- Sibylle Berg (Autorin): Brief an die Social Worker
- Tom Kummer (Autor): Brief an das Coronavirus
- Sarah Spale (Schauspielerin): Brief an die Zahnfee
- Anna Rosenwasser (LGTBQ-Aktivistin): Brief an Franziska Schutzbach
Patrick Karpiczenko: Brief an Elon Musk
Lieber Elon
Darf ich Elon zu dir sagen? Wir haben uns noch nie getroffen, aber du kennst mich vielleicht aus dem Fernsehen. Ich mache Scherze im Abendprogramm und wurde bereits in zwei Krimis als potenzieller Mörder verhaftet (einmal zurecht).
Ich schreibe, weil ich mich dir verbunden fühle. Wir sind beide Nerds. Wir sind beide technophile Utopisten, die in jeder neuen Technologie erstmal das Positive sehen. Wie du träume ich seit meiner Kindheit davon, ins All zu fliegen. Dein Lieblingsbuch («The Hitchhiker's Guide to the Galaxy») ist auch mein Lieblingsbuch. Wie du habe ich mit Kryptowährungen Gewinn gemacht (200 Franken!). Meine Mutter ist in Südafrika geboren, so wie du. Wie du fühle ich mich von meinen Eltern reich beschenkt, auch wenn meine Eltern keine Diamantenmine besitzen. Wir sind beide lustig auf Twitter.
Vermögen bringt Verantwortung. Steuerflucht ist nicht okay, auch wenn man mit dem Geld penisförmige Raketen baut.
Du siehst, wir sind praktisch dieselbe Person. Leider bist du aber, im Gegensatz zu mir, der reichste Mensch der Welt. Und da liegt der Hund begraben.
Denn als ordinärer Nicht-Milliardär ist mein Nerdtum harmlos. Aber als jemand, dessen Vermögen dem Bruttoinlandprodukt von Finnland entspricht, sind deine Leidenschaften und Spleens nicht mehr charmant, sondern gefährlich.
Die Zukunft braucht weniger Nerds und mehr Realist:innen.
Denn Vermögen bringt Verantwortung. Und Steuerflucht ist nicht okay, auch wenn man mit dem Geld penisförmige Raketen baut. Die Erlösung liegt nicht im All. Der Klimawandel von heute lässt sich nicht mit dem Marsflug von morgen bekämpfen. Und wer mit einem einzelnen Tweet Existenzen zerstören und Marktwirtschaften erschüttern kann, hat zu viel Macht.
Ich hoffe, dass du im Jahr 2022 die Toiletten in deinen Raketen reparieren kannst, damit deine Astronautinnen und Astronauten nicht mehr in die Windel machen müssen. Ich hoffe, dass dich die Nationen der Erde (deinem Heimatplaneten, du erinnerst dich) hart besteuern werden. Gemeinsam und konsequent. Aber vor allem hoffe ich, dass meine Tochter einmal bessere Träume haben wird als du und ich, Elon. Die Zukunft braucht weniger Nerds und mehr Realist:innen.
Herzlich, Karpi
Sibylle Berg: Brief an die Social Worker
Das ist ein Brief an Rea, an Dejan, an Beat, Amadeja – an die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die Kollegas in der Heilsarmee, die Gassenarbeiterin, an euch – an die, die Gesellschaft die soziale Verpflichtung ausgelagert hat, um für jene da zu sein, die keine Fürsprecher haben.
Jene, die unser perfektes System nicht verwerten kann.
Die es nicht durch ihre Arbeit nach oben geschafft haben.
Die weder geerbt haben, noch in Ruhe lernen konnten.
Die Saisonarbeiter waren oder alte Schweizerinnen gepflegt hatten, die Schweizer Männer ungern befriedigten, weil sie ihre Familie irgendwo durchbringen mussten, in einem Land, in dem die Schweiz eventuell nach Rohstoffen gräbt.
Ein Brief an euch, die ihr jenen ihre Rechte erklärt, an denen der Kapitalismus vorbeigefahren ist: die Leute am sogenannten Rand, an dem sie sichtbar herumsitzen als Mahnung an den guten, den starken, den gesunden Schweizer, sich an die Regeln zu halten, an den Wettbewerb zu glauben, die Eigenverantwortung, und daran, dass es ihr Verdienst ist, in diesem Land geboren, nie schwer krank geworden zu sein, keinen Krieg erlebt zu haben, nicht entlassen, nicht müde geworden zu sein, weil das Leben eine solche Demütigung war.
Wir, die mit Glück, wollen die Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht wirklich sehen, die es nicht so gut getroffen haben.
Das ist ein Brief an euch, die ihr stellvertretend für den grossen Rest mit den Menschen redet, in den Notschlafstellen, den Notunterkünften, an den Bahnhöfen, von denen sie verjagt werden, damit sie das gepflegte Bild nicht stören, auf den Bänken mit Armlehnen, damit man nicht auf ihnen liegen kann.
Aber das sehen die meisten Menschen nicht, die immer neuen Schikanen. Die Kleiderkammern, die Suppenküchen.
Wir, die mit Glück, wollen die Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht wirklich sehen, die es nicht so gut getroffen haben, denn man könnte erschrecken: Das ist ja ein Mensch, er gleicht mir, mit seinem Gesicht und dem verletzlichen Körper, mit der Abhängigkeit vom Wohlwollen anderer. Er gleicht mir mit seinen Hoffnungen, den Träumen, der Sehnsucht nach Beständigkeit, einem Zuhause und Liebe.
Ich wünsche mir, dass unser Land es allen Menschen, die hier leben, ermöglicht, es in Würde zu tun. Ohne Angst vor der Kälte, dem Hunger, der Einsamkeit.
Die meisten wollen sie nicht sehen, die Menschen, die weniger Glück hatten, weil sie Angst haben zu begreifen, dass unser Leben so gefährdet ist. Ein dummer Unfall, ein Schicksalsschlag, eine Entlassung.
Und nun – ist in den letzten zwei Jahren das Leben vieler, die es vorher schon nicht leicht hatten, noch mühsamer geworden.
Ich wünsche mir, dass unser Land, eines der Reichsten, es allen Menschen, die hier leben, ermöglicht, es in Würde zu tun. Ohne Angst vor der Kälte, dem Hunger, der Einsamkeit. Und uns allen, dass wir wieder ein wenig solidarischer werden und alle wahrnehmen als Teil der grossen Gemeinschaft, ohne die das Leben verdammt öde wäre.
Vielen Dank für eure Arbeit!
Tom Kummer: Brief an das Coronavirus
Liebes Virus
Es stimmt schon, was du uns seit einer ganzen Weile mitteilen willst: Wir müssen alle sterben. Irgendwann! Alle!
Wieso aber verbreitetes du diese sinnlose Aufregung? Wieso kannst du die Regierenden nicht davon überzeugen, uns Menschen wenigstens metaphorisch vor den Schrecken deiner tödlichen Kraft zu befreien?
Erfolgswesen wollen immer lächeln, immer gut drauf sein, als ein Zeichen von Optimismus und Zukunftsgläubigkeit. Lächerlich!
Natürlich spreche ich hier als Schriftsteller und Romantiker, der den Kult um die Krankheit gerade in der Literatur zu schätzen gelernt hat. Zu Zeiten der Tuberkulose galt zum Beispiel der melancholische Charakter – oder der tuberkulöse – als ein überlegener: empfindsamer, schöpferischer, ein besonderes Wesen.
Ich weiss, Erfolgswesen wollen immer lächeln, immer gut drauf sein, als ein Zeichen von Optimismus und Zukunftsgläubigkeit. Lächerlich! Die Krankheit war einmal der Weg, langweilige Menschen «interessant» zu machen – und gerade so ist «romantisch» ursprünglich auch definiert worden. «Das Ideal der vollkommenen Gesundheit», schrieb Novalis in einem Fragment von 1800, «ist nur wissenschaftlich interessant». Was wirklich interessiert, ist die Krankheit, «die zur Individualisierung gehört».
Kranksein ist ein Weg, sich von der Welt zurückzuziehen, ohne für diese Entscheidung die Verantwortung übernehmen zu müssen.
Wieso, liebes Virus, zeigen uns die Corona-Verantwortlichen immer nur deine schreckliche Seite. Wieso verweisen sie nicht auf die Vorteile, damit sich die Lage entspannt. «Ich sehe blass aus», sagte der Schriftsteller Lord Byron, als er in Interlaken eintraf. «Ich würde gerne an einer Schwindsucht sterben. Weil die Damen alle dann sagen würden: Seht doch, den armen Byron, wie interessant sieht er als Sterbender aus!» Es war ein Zeichen von Vornehmheit, von Sensibilität, traurig zu sein.
In Thomas Manns «Zauberberg» wird der Bürger erst durch seine Krankheit tatsächlich geistig verfeinert. Romantiker wie Frédéric Chopin, D.H. Lawrence oder Virginia Woolf erfanden das Kranksein als Vorwand für Müssiggang und die Entledigung von bürgerlichen Verpflichtungen zugunsten eines ausschliesslich der Kunst gewidmeten Lebens. Es ist ein Weg, sich von der Welt zurückzuziehen, ohne für diese Entscheidung die Verantwortung übernehmen zu müssen: Das eigene Leben «runterfahren»!
Ich hoffe doch sehr, liebes Virus, dass die Verantwortlichen im neuen Jahr sehr viel mehr über deine Vorteile berichten, die subversiven Sehnsüchte, die tiefere Wahrheit deiner Schreckherrschaft. Damit wir wieder entspannen können.
Sarah Spale: Brief an die Zahnfee
Liebe Zahnfee
Dich gibt es, das weiss ich. Wie sonst käme der Einfränkler unter das Kissen meiner Kinder, wie er schon bei mir im Austausch gegen meine Zähne am Morgen aufzufinden war?
Wenn es dich gibt, gibt es euch alle – Feen und Feenrichs! Es braucht euch dringend: Wer sonst würde Amorpfeilchen schiessen, damit wir uns in diesen distanzierten Zeiten nicht anmotzen, sondern liebend, zumindest wohlwollend, zuzwinkern? Und uns zwischendurch, heimlich und verstohlen, sogar eine Umarmung gönnen.
Wer würde uns immer wieder hineinschicken in eine zufällige Begegnung mit einem Menschen von anderer Herkunft?
Wer würde den Kindern den Schabernack in die Köpfe zaubern, so dass sie nicht nur den Stress, den die Gesellschaft ihnen auferlegt, das verreckte Schulsystem mit Leistungsdruck ohne Ende, in sich aufnehmen? Sie sollen doch die Buchstaben über die Ränder schreiben dürfen und im Kindergarten bestimmt noch nicht Lesen können müssen. Es sind Kinder, oder nicht?
Wer würde uns immer wieder hineinschicken in eine zufällige Begegnung mit einem Menschen von anderer Herkunft oder so und uns merken lassen, dass wir zwar nicht alle gleich, aber gleich viel wert sind? Weil ja auch die Feen – männlich, weiblich, nonbinär usw., rot, blau oder rosa – alle ziemlich coole «Siechen» sind.
Ich glaube an dich, liebe Zahnfee, und an euch alle und finde, es macht einfach mehr Spass mit ein bisschen Magie.
Und wer sonst würde die Menschen immer ein bisschen verrückter machen, weil es fast nicht auszuhalten ist, was wir alles tun und müssen und sollen? Damit wir irgendwann und vielleicht schon bald ein Haufen verrückter, sabbernder, wieder nackt herumlaufender Wesen sind, die merken, dass das Wichtigste eben dieser nackte Haufen ist und die Erde, auf der wir uns herumtummeln und von der wir uns ernähren?
So, liebe Zahnfee, ich hoffe und wünsche, dass du auch im 2022 waltest, wie wild dein Sternchenpulver versprühst und uns irre und kirre machst. Ich glaube an dich und an euch alle und finde, es macht einfach mehr Spass mit ein bisschen Magie.
Alles Liebe, Sarah – du weisst schon, die mit dem rosa-grün-gestreiften Kissenbezug damals.
Anna Rosenwasser: Brief an Franziska Schutzbach
Liebe Franziska
«Für die Ferien liest du vielleicht etwas Leichtes», schlug meine Freundin kürzlich vor, als ich euphorisch-überfordert durch die feministische Buchhandlung wuselte, und ich erst so: fuck, stimmt – aber dann so: nein, eh nöd!
Vielleicht geht es anderen Menschen ja auch so vor der Entscheidung, ein heavy Buch zu lesen. Also heavy nicht im Sinne von vielen Seiten, sondern heavy im Sinne von schwerer Kost. Wie etwa: Feminismus. Genauer: Sexismus. Hm, vielleicht eher was Leichtes?
Ich finde nicht, und drum schreib ich dir heute: Franziska, was du schreibst, das ist heavy, und wenn ich es lese, dann geht es mir deswegen nicht schlechter, sondern besser. Das mag auf den ersten Blick kontraintuitiv wirken, aber ergibt beim zweiten Hinsehen Sinn: Wenn ich feministische Autorinnen wie dich lese, fühle ich mich verstanden – nein: werde ich verstanden. Und verstehe wiederum selbst besser, was geschieht. Das ist der beste Nährboden für Ideen, was wir gegen Ungerechtigkeiten unternehmen können.
Wir, nicht nur ich.
Der Griff zu deinem Buch über rechte Rhetorik gab mir Ermächtigung innerhalb der Ohnmacht zurück.
Hey Franziska, ich schwör, dass dein aktuelles Buch grad so durch die Decke geht, lässt mich voller Zuversicht ins 2022 rutschen. Mit der Aussicht, dass ich weich landen werde, auf bestärkter, solidarischer und konstruktiver Wut von ganz vielen, bestenfalls ganz unterschiedlichen Menschen. Wie beim Stagediven.
2021 hab ich so viel rechte Hassrede abbekommen wie noch nie. Wenn ich ehrlich bin, machte mich das zeitweise recht ohnmächtig. Der Griff zu deinem Buch über rechte Rhetorik gab mir dann etwas Ermächtigung innerhalb der Ohnmacht zurück.
Fun fact: Das erste Mal gelesen hab ich jenes Buch ebenfalls mal in den Ferien, und danach fühlte ich mich so, hm, ja wie? Irgendwie so: parat. Jedenfalls parater, als wenn ich damals stattdessen einen kitschigen Jugendroman gelesen hätte. (Die lese ich natürlich auch gerne. Es gibt so schöne queere Jugendromane!)
Ich glaube eh nicht, dass irgendwer mit irgendwas «die Einzige» ist. Wir sind viele, und wie cool ist denn bitte das.
Die Vorstellung, dass ich nicht die Einzige bin, die nach dem Lesen deiner Bücher stärker ist, diese Vorstellung gibt mir Hoffnung. Ich glaube eh nicht, dass irgendwer mit irgendwas «die Einzige» ist. Wir sind viele, und wie cool ist denn bitte das.
Wir sehen uns im 2022. Das Jahr wird vielleicht nicht leicht, aber wir lupfen ja gemeinsam.
<3, Anna