Diese Geschichte vom Landesverrat hat das Zeug zum Thriller: Hauptfiguren mit Brüchen und Gegenspielern, ein Verrat, ein Unrecht, Pikantes, kurzum eine gute Story. Diese Story ist fast zu gut. Und sie bleibt nebulös, wie jede gute Agentengeschichte.
Der Schweizer Brigadier und der sowjetische Militärattaché
Die Historiker Jürg Schoch und Urs Rauber sowie der Dramatiker Urs Widmer sagen im Interview, die Geschichte gehe so: Mitte der 70er-Jahre, im Kalten Krieg, legt die CIA dem Schweizer Geheimdienst eine Liste mit 60 Namen vor. Darauf soll ein Maulwurf innerhalb des Schweizer Dienstes oder des Militärs sein. Hoch platziert. Der verrate Geheimnisse gen Osten. Ein Brigadier gerät ins Visier und wird überwacht. Zwei Mann folgen ihm auf Schritt und Tritt, Telefone werden abgehört. Der Brigadier trinkt gerne einen, geht auf die russischen Apéros in Bern. Die sind legendär. Er trifft einen Attaché: Wassili Denissenko. Ein Glas, noch ein Glas und ein Wort ergibt das andere.
Hauptfigur und Gegenspieler
Nach einem Jahr Observierung verhaftet man den Brigadier Jeanmaire im August 1976, stellt ihn vor ein Militärgericht. Anklage: Landesverrat. Die Stimmung im Volk, in der Politik, in den Medien – aufgeheizt. Jeanmaire wird als «Jahrhundertverräter» bezeichnet. Ein Politiker fordert die Todesstrafe. Vor Prozessbeginn hält Bundesrat Kurt Furgler eine Rede.
Furgler sei der «Dramaturg der öffentlichen Meinung» gewesen, sagt Urs Rauber. Der Brigadier Jeanmaire wird in dieser Rede vorverurteilt. Dann verurteilt. Die Anklage fordert 12 Jahre.
Es kommt nach Auskunft Jeanmaires zur Urteilsabsprache – am 27. April 1977. Diese Aussage hat er gegenüber Rauber gemacht: Gericht, Anklage und Verteidigung verständigen sich auf 18 Jahre Zuchthaus und Degradierung. Ein Richter wird Jeanmaire später besuchen und ihm von seinen« Bauchschmerzen» mit dem Urteil berichten.
Furgler verwendete die Formulierung «geheimster» Unterlagen und erweckte dadurch den Eindruck, sie seien «streng geheim». Jürg Schoch sagt dazu: «Die Weitergabe ‹streng geheimer› Papiere, auf die Justizminister Furgler voreilig und fahrlässig angespielt hatte, warf die Anklage Jeanmaire nicht vor. Jeanmaire hatte gar nie Zugang zu solchen. Und die beiden ‹geheim› klassifizierten Dokumente, die er Denissenko überliess, lagerten bei über tausend Truppenkommandanten zu Hause in deren Gepäck. Dokumente mit einem so breiten Verteilschlüssel hätten gar nicht als ‹geheim› eingestuft werden dürfen.»
Kein typischer Verräter
Von nationaler Bedrohung konnte also keine Rede sein. Jeanmaire hat die Weitergabe dieser Dokumente zwar gestanden. Eine Grundlage für die 18 Jahre Zuchthaus stellen sie jedoch nicht dar. «Die Stimmung im Land sei damals derart aufgeladen gewesen, dass ein milderes, die Proportionen wahrendes Urteil nicht akzeptiert worden wäre», sagt Jürg Schoch.
Jeanmaire sei auch kein typischer Verräter gewesen, weder ein Vaterlandshasser noch habe er Geld gebraucht. Urs Widmer sagt, der Brigadier habe Geschenke angenommen. Einen Fernseher. Denissenko habe ihm den vor die Tür gestellt. Der sowjetische Diplomat beglückte längere Zeit auch Jeanmaires Frau. Auch das wird aktenkundig. Tagebücher mit explizitem und wenig «lady-likem» Inhalt. Das ist pikant – aber keine Frage der nationalen Sicherheit. Nicht im engeren Sinn.
Lieber im Zuchthaus als ohne Ehre
1977 verschwindet Jeanmaire im Zuchthaus. Nach vier Jahren legt man ihm ein Begnadigungsgesuch vor. Er müsse nur unterschreiben und sei frei. So berichtet Urs Widmer. Jeanmaire lehnt ab. Er wolle rehabilitiert werden. Seine Ehre wolle er zurück. Er bleibe lieber im Zuchthaus. Die Jahre vergehen. Vier Jahre später das gleiche Angebot und die gleiche Reaktion. Nach 12 Jahren lässt man ihn frei. Wegen guter Führung. Er kämpft weiter vergeblich um seine Rehabilitierung.
Brüchige Hauptfigur
Der Dramatiker Urs Widmer sagt über Jeanmaire, über den er ein gleichnamiges Stück veröffentlichte: «Er war ein kalter Krieger und ein schwadronierendes Rindvieh zugleich.» Jeanmaire ist ein Mann mit Brüchen: Er macht gerne die Stimmungskanone, so auch in Moskau.
Er begleitet Frau Denissenko am Klavier. Und für alle, die das Lied nicht erkannt haben, sagt er es nochmals frontal in die Kamera: «Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen ...» Jeanmaire begleitet in einem russischen Wohnzimmer das «Horst-Wessel-Lied». Ein Nazi-Lied. Wer auf die Idee kam, das anzustimmen, wissen wir nicht.
Das Unrecht
Rauber, Schoch und Widmer sagen, es gehe im Fall Jeanmaire um zwei Dinge: Jeanmaire kann nicht der Maulwurf gewesen sein, den die CIA suchte. Er geriet zufällig ins Visier. Viel wahrscheinlicher ist, dass das Leck im Geheimdienst zu suchen ist. Der schweizerische und rumänische Dienst übten regen Kontakt.
Urs Rauber sagt, er wüsste gerne, was in rumänischen Archiven lagert. Dann wisse man eher, welches Ausmass die Geschichte gehabt habe und ob man überhaupt eine Person identifizieren könne. Urs Widmer hat jemanden in Verdacht. Dessen Anwalt rief ihn an. «Er hat mich nicht bedroht. Nein. Er sprach wie ein Anwalt.»
Das andere ist das ganze Verfahren gegen Jeanmaire. Rauber sagt, hier gebe es «Rechtsritzungen bis Rechtsverletzungen». Schoch sagt, ein solcher Geheimprozess sei «eines liberalen Rechtsstaats unwürdig» und Urs Widmer: «Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende: Zu viele Enden flattern da noch lose herum. Und die Geschichte stinkt.»
Jeanmaire stirbt am 29. Januar 1992. Wenige Tage später wird seine Asche auf dem Simplon verstreut. Das war sein letzter Wille. Ein Trompeter spielt: «Ich hatt' einen Kameraden.»