Man kann die Geschichte von Fritz Zorns Buch «Mars» nur schwer ohne Adolf Muschg erzählen, denn ohne ihn gäbe es diese kalte, analytische Abrechnung mit der Goldküsten-Bourgeoisie vielleicht gar nicht. 1976 hatte Muschg von einem Freund und Studiengenossen ein unveröffentlichtes Manuskript erhalten, erinnert sich der Autor im SRF-Interview. Der Hinweis «Es muss rasch gehen» verhiess nichts Gutes.
Muschg las das Manuskript und war hinterher «nicht mehr derselbe Mensch», wie er im Vorwort zum Buch schreiben sollte: «Ich bin zwar kein Geschöpf der Goldküste, wo die Geschichte Zorns spielt, aber ich war zutiefst berührt. Ich kenne ja diese Gesellschaftsschichten.» Er habe Verleger Kindler angerufen, der auf ein Buch von ihm, Muschg, über Gottfried Keller wartete, und er habe «eine kleine Erpressung» vorgenommen: «Nur, wenn Sie den Fritz Zorn herausbringen.»
30 Jahre Einsamkeit
Fritz Zorn beginnt sein Buch mit dem Satz: «Ich bin jung und reich und gebildet; und ich bin unglücklich, neurotisch und allein.» Fritz Zorn, Sohn einer wohlhabenden Familie, beschreibt die Ambivalenz eines scheinbar intakten familiären Hintergrundes und der Gleichzeitigkeit einer totalen zwischenmenschlichen Kälte, die ihn sein Leben lang krank gemacht habe, die ihm jegliche körperliche Beziehung bis ins 32. Lebensjahr verunmöglichte.
Er habe «ein Leben geführt, das eigentlich keines gewesen ist», und die Krebsdiagnose, die er erhalten habe, sei die logische Konsequenz seines bisherigen Lebens gewesen. Dieses Leben war Agonie. Kalt und todesnah.
Die Abrissbirne der zwischenmenschlichen Neutralität
Das Buch wird Kult. Die 80er-Bewegung reklamiert es gleich für sich. Zorns Buch ist die gleissend-beissende Abrechnung mit dem helvetischen Establishment, der Brandsatz für die Teegesellschaften, die gelangweilt seufzend in gepflegter Thomas-Mann-Manier aufs Zürichsee-Ufer blinzeln und Weltschmerz als Attitude pflegen. Fritz Zorn ist die Abrissbirne der gehobenen Gemütlichkeit und zwischenmenschlichen Neutralität.
«Mars» hallt nach, weit über die 80er-Bewegung hinaus: In einer legendären Theaterinszenierung fand Regisseur Johann Kresnik plakativ schmerzhafte, treffsichere Bilder von grosser symbolischer Kraft für eine morbide Gesellschaftsschicht. Kresnik lässt den Tod, gespielt von Ismael Ivo, und Fritz Zorn, gespielt von Bernhard Schütz, ein Pas-de-deux tanzen, bei dem der Tod lebendiger erscheint als der Lebende. Aufschlussreicher konnte man Zorns Lebens-, pardon, Sterbegefühl bildhaft nicht umsetzen.
«Macht kaputt, was euch kaputt macht» – oder sterbt daran
Spricht man über Zorn, dann spricht man über Gegensätze, Ambivalenzen oder wie Muschg sagt «Schizophrenie». Diese Schizophrenie werde an einem anderen Beispiel besonders deutlich. Die Gebrüder Sauber seien für ihn, Muschg, ein Beispiel, welche Ambivalenz dieser Zorn in sich getragen habe: der eine Sauber-Bruder, Werner, ging in den politischen Untergrund und wurde als Mitglied der RAF in Köln erschossen. Der andere, Peter, besitzt einen Formel-1-Rennstall und wird vom Schweizer Bundesrat auf einem Ausflug besucht.
Die Ambivalenz dieser beiden Brüder habe Zorn in sich vereinigt: «Anstand, Haltung und totale Abweichung zugleich». «Mars» sei für Muschg «die Schizophrenie einer Bourgeoisie, an der man stirbt und dieses Sterben wird im Buch nochmal als ganz grosse Nummer inszeniert: in einem heroischen Bühnenbild, in dem sich ein Individuum nicht verkauft».
Von Angst zu Zorn
In seinem bürgerlichen Leben hiess Fritz Zorn eigentlich Fritz Angst und war Lehrer. Adolf Muschg erzählt, dass er einmal dessen ehemalige Schüler getroffen habe, deren Reaktion auf Zorn sei «gespalten» gewesen: Einerseits hätten sie ihn bewundert, er habe «Sachen gemacht, die sich kein anderer Lehrer traute».
Er habe anzügliche Theaterstücke für sie verfasst und selbst mitgespielt. Während er sich im Buch als graue Maus inszeniert, sei er auf der Strasse mit langem schwarzem Mantel und einem Körbchen voll Bücher in der Verkleidung des bekennenden Schwulen aufgetreten.
Das sei seine «skurrile, groteske Seite gewesen». Andererseits habe er «mit der Zutraulichkeit seiner Schüler rein gar nichts anfangen können». Als Person sei er «kühl, ja kalt gewesen».
Und heute?
Muschg glaubt, dass es diese Kodierung der Gesellschaft, wie sie Fritz Zorn erlebt hat, heute so nicht mehr gibt: Er würde nicht gegen eine Wand sondern ins Leere laufen: «Sein Krebs-Buch ist von jeder Ratgeber-Literatur und dem populären Jammer der Selbstbespiegelung weit entfernt. Dieser Narziss spielt den Dandy, er sucht die steile Pose, den existentialistischen Eklat. ‹Mars› ist ein anti-bürgerliches Manifest und hat nicht zufällig in Frankreich, dem Hochsitz der Bourgeoisie, die stärkste Wirkung gehabt. Es verwendet den Krebs als Sprengstoff gegen das Juste Milieu und schleudert ihm sein ‹Viva la muerte› entgegen. Im Grunde ist es ein tieftrauriger Text. Er sagt: Die Ordnung, in die ich geboren wurde, ist kein Leben. Ihr seid selbst schuld, wenn ich lieber gleich richtig tot bin.»
Käme «Mars» heute heraus, das Buch würde auf der ontologischen Resterampe der Postmoderne landen. Und das ist schade. Es ist ein Text, der beschreibt, wie jemand erfriert in einer Eiseskälte aus Wohlstand und Beziehungslosigkeit.