Simone Rüedi ist eine zierliche Frau. Es würde viele überraschen, dass sie beim Segeln leidenschaftlich gern den Naturkräften trotzt. An diesem grauen Julinachmittag bleibt das Boot aber an der Boje vertäut.
Am Esstisch mit Blick auf den Bodensee erzählt sie, dass das Segeln für sie eine der vielen Strategien war, sich mit ihrem unerfüllten Kinderwunsch zu versöhnen. «Auf dem Boot muss man jeden Moment präsent sein und hat keine Zeit zu grübeln», sagt die 50-Jährige.
Später Kinderwunsch
Erst mit Mitte 30 kam ihr Kinderwunsch auf. Simone Rüedi hatte zuvor auf dem zweiten Bildungsweg Psychologie studiert und wollte Fuss fassen in der Berufs- und Laufbahnberatung. Etwas aber fehlte.
Das Arbeitsleben erfüllte sie nicht ganz. «Etwas in mir schlummerte. Ich hatte das Gefühl, ich würde es bereuen, wenn ich mich jetzt nicht entscheide, mit meinem Mann noch eine Familie zu gründen.»
Das Vorhaben blieb ohne Erfolg. Es folgten medizinische Abklärungen, Hormonbehandlungen, In-vitro-Fertilisation. Die Zeit war begleitet von Hoffnung, Enttäuschung und Frustration.
Nach zwei Versuchen der künstlichen Befruchtung hatte Simone Rüedi dafür keine Kraft mehr und brach die Behandlungen ab. Sie dachte: «So kann ich mich aktiv damit auseinandersetzen und mich darauf einstellen, ein Leben ohne Kind zu führen.» Doch zuerst folgte ein langer, dunkler Tunnel.
Gemäss Bundesamt für Statistik haben in der Schweiz aktuell rund ein Viertel der Frauen zum Zeitpunkt ihrer Menopause keine Kinder. Eine grosse Minderheit.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Neben Unfruchtbarkeit sind das etwa eine fehlende Beziehung oder die unterschiedlichen Vorstellungen eines Paars. Auch die sexuelle Orientierung kann (muss aber nicht) ein Hindernis sein. Andere entscheiden sich bewusst gegen Kinder, weil sie keinen Kinderwunsch haben. Auch ökologische Gründe werden neuerdings angeführt.
«Es ist kein Novum der Geschichte, dass Frauen keine Kinder haben», sagt die Soziologin und Geschlechterforscherin Diana Baumgarten von der Universität Basel. Biologische Ursachen für Kinderlosigkeit habe es schon immer gegeben – oder andere Gründe, wie etwa den Stand.
«Mägde und Knechte durften nur heiraten, wenn sie für sich selbst sorgen konnten», erklärt Baumgarten.
Vielen Menschen blieben folglich Ehe und damit Kinder verwehrt. Nur die bewusst gewählte Kinderlosigkeit sei ein neueres Phänomen, so Baumgarten. Frauen, die keine Kinder wollten, hatten höchstens die Möglichkeit, ins Kloster einzutreten.
Eine lange Zeit der Ohnmacht
Simone Rüedis Blick schweift immer wieder zum See. Sie erzählt ruhig und konzentriert. Man merkt, dass sie sich schon intensiv mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt hat. Nach Abbruch der Kinderwunschbehandlung folgte eine erste Trauerphase. Diese fiel zusammen mit einer beruflich fordernden Zeit.
In ihrem sehr jungen Team war immer wieder jemand im Mutterschaftsurlaub. Die Arbeit stapelte sich bei ihr.
«Den anderen sozusagen bei der Verwirklichung ihres Kinderwunsches zu helfen, war bitter», erinnert sich Simone Rüedi. «Ich hätte mir auch eine Auszeit mit Familienglück gewünscht».
Der Stress und die Trauer liessen sie jeden Herbst in ein Loch fallen. Erst im Frühling hellte sich ihre Stimmung wieder auf. «Ich hatte keine griffigen Strategien im Umgang mit dem unerfüllten Kinderwunsch», erinnert sie sich.
Die Wende nach der Krise
Das ging einige Jahre so, bis verschiedene Ereignisse eine Wende brachten. Simone fand Erfüllung in ihren Hobbys – Singen, Yoga, das Segeln mit ihrem Mann. Und sie pflegte den Kontakt mit den Nachbarskindern.
Ein Schlüsselerlebnis war der Film «Alle 28 Tage», den sie zufälligerweise am Fernsehen sah. Die Journalistin Ina Borrmann dokumentiert darin ihre eigene Kinderwunschbehandlung. Simone Rüedi heulte mit ihr.
«Ich konnte den Schmerz zulassen, ein Stein fiel mir von den Schultern.» Das Gefühl, ihr Erlebnis mit jemandem zu teilen, half.
Zuvor habe sie sich sehr allein gefühlt mit ihren Erfahrungen. Schliesslich stösst sie auf Regula Simon. Sie bietet Coachings, Treffen und Workshops für kinderlose Frauen an.
Simone Rüedi ging hin, knüpfte Kontakte. Inzwischen leitet sie sogar Workshops mit. «Es erfüllt mich, meine Erfahrung mit anderen kinderlosen Frauen zu teilen und sie zu unterstützen», sagt sie.
Jahrelang hat sie die Frage beschäftigt: «Für was bin ich da, für was lohnt es sich?» Inzwischen hat sie die Antwort gefunden: «Ich kann einfach glücklich so sein, wie ich bin.»
Weg vom Tabuthema
Lebenswege jenseits der Mutterschaft kommen medial immer häufiger zur Sprache. Die US-amerikanische Autorin Sheila Heti hat mit ihrem Buch «Mutterschaft» 2019 Aufmerksamkeit erregt. Es ist eine kluge Auseinandersetzung mit der Kinderfrage, die sich im Leben fast jeder Frau stellt. Bei Heti führte sie zu einem Entscheid gegen Kinder.
Dieses Jahr ist im Zytglogge-Verlag ausserdem ein Buch von Jeannine Donzé erschienen. In ihrem Porträtband «Was wir in die Welt bringen. Frauen zwischen ‹kinderlos› und ‹kinderfrei›» erzählen 15 Frauen von ihrer ungewollten Kinderlosigkeit, aber auch von ihrer bewusst gewählten Kinderfreiheit.
Der Begriff «kinderfrei» wird inzwischen öfters verwendet, um die negativ wirkende Bedeutung des Begriffs «kinderlos» zu umgehen. Prominent hat ihn die Autorin Verena Brunschweiger gemacht.
Sie veröffentlichte vor zwei Jahren das feministische und ökologische Mainfest «Kinderfrei statt kinderlos». Die provokative Streitschrift wurde entsprechend kontrovers aufgenommen.
Mutter sein ist immer noch eine Norm
Ob kinderlos oder kinderfrei: «Frauen ohne Kinder sind in der Forschung ein vernachlässigtes Feld», sagt Geschlechterforscherin Diana Baumgarten. Auch, weil in der gesellschaftlichen Wahrnehmung Frau und Mutterschaft immer noch eng miteinander verbunden seien. Diese Verknüpfung habe seinen Ursprung im bürgerlichen Familienideal des 19. Jahrhunderts, erklärt Baumgarten.
Die Frau war für die Fürsorge zu Hause zuständig, der Mann für den Aussenbereich und das ökonomische Überleben. Den Höhepunkt hatte dieses Familienideal in den 1960er- und 70er-Jahren.
Damals war dieses Modell auch wirtschaftlich für breite Kreise der Bevölkerung möglich. Mit der 1968er-Bewegung und der Frauenemanzipation begann gleichzeitig der Niedergang des Ideals.
Und doch: Obwohl sich die Vorstellung von Familiennormen öffnen, müssen sich besonders junge Frauen, die keine Kinder wollen, verteidigen oder werden nicht ernst genommen, sagt Diana Baumgarten. «Man unterstellt ihnen trotzdem einen Kinderwunsch.»
Kein Kinderwunsch
Auch Ariane Geiser kennt solche Kommentare. Sie ist Anfang 40. Ihre loftartig renovierte Wohnung strahlt elegante Behaglichkeit aus. «Ich wohne gerne schön!», lacht sie. Ihre Herzlichkeit zieht sich durch das ganze Gespräch. «Als rund um mich Kinder auf die Welt kamen, hiess es manchmal, warte nur, dein Kinderwunsch kommt schon noch.»
Es war eine Zeit, als sie bei den Baby-Besuchen bei ihren Freundinnen genau hingehört habe, ob da nicht doch etwa ein übersehener Kinderwunsch wäre, sagt sie. Aber nein, da war nichts. Eigentlich wusste sie schon immer, dass sie keine Kinder haben will.
Wie ein Mann leben
Ariane Geiser war immer zufrieden mit ihrem Leben und wollte daran nichts ändern. «Das Gefühl, freiwillig mit jemandem verbunden zu sein, ist mir ein Anliegen.» Kinder hätten Abhängigkeiten bedeutet.
Vielleicht habe es auch eine Rolle gespielt, dass sie umgeben von kinderlosen und unabhängigen Frauen aufwuchs. «Ich hatte das Gefühl, für mein Leben spielt es weniger eine Rolle, ob ich Frau bin, sondern ob ich Mutter bin. Ohne Mutter zu sein, konnte ich das Leben eines Mannes führen.»
Manchmal durchzuckt sie der Wunsch, dass man ihrem Lebensentwurf wohlgesonnen sein möge. «Gehört es sich etwa, dass ich für mich alleine ein Auto kaufe?» Da könne sie nicht mit den Bedürfnissen einer Familie im Hintergrund argumentieren.
Kinderlosigkeit kann auch bedeuten, sich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen. Ariane Geiser beschreibt das Verhältnis zu ihren Eltern: «Ich bleibe immer Tochter. Wenn ich daran denke, dass meine Eltern einmal nicht mehr sind, dann habe ich ein Gefühl, als würde ich schweben.»
Druck, etwas aus der Freiheit zu machen
Ein Leben ohne Kinder kann Freiheiten bieten. Es kann aber auch einen Druck bedeuten, etwas aus dieser Freiheit zu machen. Ariane Geiser verspürt diesen Druck nicht. Da sind keine ausgedehnten Reisen oder eine steile Karriere.
Ihr Leben sei nicht besonders aufregend, schmunzelt sie. «Was meinem Leben Gewicht gibt, sind Freundschaften und ein solides Beziehungsnetz.»