SRF Kultur: Sie haben sich 25 Jahre lang mit dem Gotthard auseinandergesetzt – eine lange Zeit.
Jean Odermatt: Der Gotthard war seit meiner Kindheit ein magnetischer Anziehungspunkt für mich. Ich habe in den 1980er-Jahren begonnen, mich mit den Wolkenformationen im Gotthardraum zu beschäftigen. Sie waren derart spektakulär, dass ich sie unbedingt einfangen wollte. So bin ich zur Fotografie gekommen. 400‘000 Aufnahmen aus 500 Positionen im Gelände sind so entstanden.
Das war eine spannende Zeit, denn während 25 Jahren verändert sich nicht nur die Weltgeschichte, sondern auch die Natur und das Klima: Die Wolken sehen heute anders aus, als noch vor 20 Jahren, die Gletscher sind zurückgegangen und die Farben haben sich geändert.
Im Sommer wurde der neue Gotthardtunnel eröffnet. Wie beurteilen Sie diese neuste Veränderung im Gotthardraum?
Ich finde die Situation am Gotthard merkwürdig: Man feiert die Eröffnung dieses Tunnels und gleichzeitig weist niemand darauf hin, dass über ihm ein ganzer Berg ist.
Auch hat die Fahrt durch die Leventina bisher eine Stunde gedauert. Ab heute, mit dem neuen Tunnel, dauert die Zugfahrt noch genau 17 Minuten. Es braucht keine Kurven, um die enorme Höhe des Berges zu überwinden und keine Anstrengung. Man fährt einfach durch. Vom Berg sieht man nichts mehr.
Die Wucht des Berges – das Bedrohliche wie das Schützende – geht verloren.
Sie finden, der Gotthard als Gebirgsmassiv gehe durch die rasante Tunnelfahrt gewissermassen verloren?
Der Berg wird physisch und mental nicht mehr wahrgenommen. Die Wucht, die er ausstrahlt, das Bedrohliche wie das Schützende, verliert seine Wirkung.
Es ist jetzt nicht mehr der Mensch, sondern der Computer, der durch den Tunnel fährt. Die physische Verbindung von Mensch und Berg sowie der Widerstand der Elemente fehlen.
War das bei Ihrer Auseinandersetzung mit dem Gotthard anders?
Ich habe mich in diversen Kunstprojekten intensiv mit dem Gotthardraum beschäftigt. Physische Präsenz war dabei extrem wichtig, ja: Wir haben Spektakel organisiert, teilweise auf 2500 Meter Höhe, ich bin auf den Berg und in den Berg hinein geklettert.
Das Gotthard-Projekt ist unterdessen abgeschlossen. Wie geht es nun weiter?
Das Gebirge beschäftigt mich nach wie vor, ich konzentriere mich jetzt einfach auf mehrere Berge statt auf einen einzelnen. Aktuell arbeite ich an einem Projekt namens «Crystallization», das vom Schweizerischen Alpen-Club SAC in Auftrag gegeben wurde. Dabei wird aus künstlerischer Sicht die Zukunft des alpinen Raumes thematisiert.
Wir verlieren langsam aber sicher unseren Wasserspeicher. Er säuft uns wortwörtlich ab.
Und die wäre?
Die Alpen signalisieren uns bereits jetzt, wie sie sich entwickeln werden. Sie sind eine Art Frühwarnsystem. Hört man beispielsweise, dass die Schneefallgrenze wieder um 300 Meter steigt, sollte uns das hellhörig machen.
Das wird nämlich nicht nur für die Tourismusbranche zum Problem, sondern für uns alle: Wir verlieren langsam aber sicher unseren Wasserspeicher. Er säuft wortwörtlich ab. Solche Tatsachen wollen wir im Projekt thematisieren.
Sie befassen sich also erneut mit dem Gebirge. Werden Sie irgendwann an den Punkt kommen, an dem Sie sagen: Ich habe mich jahrzehntelang mit den Bergen beschäftigt, jetzt reicht es?
Nein, denn das ist dasselbe, wie wenn Sie sagen würden: Jetzt habe ich mich lange genug mit mir selber beschäftigt, jetzt reicht es. Das tun Sie auch nicht, oder?
Das Gespräch führte: Helen Stadlin.
Sendung: Sternstunde Kunst, «Der Wolkensammler: Jean Odermatt – San Gottardo», 11. Dezember 2016, 11:55 Uhr, SRF 1.