Casa 93 hat zum Tag der offenen Tür eingeladen. In einem ehemaligen Ladenlokal in der Pariser Banlieue Saint-Ouen tummelt sich eine bunte Mischung junger Leute, die sich für eine Ausbildung an der neuen Modeschule interessieren. Andere Studierende sind bereits hier.
Sandi, eine junge Schwarze in zitronengelber Windjacke, ist eine der dreizehn Schülerinnen und Schüler, die seit September hier in der Casa 93 unterrichtet werden. Sie zeigt, woran sie gerade arbeiten.
Angesagt sind Teamwork und ethisch korrekte Mode
Vorsichtig zupft sie den raffinierten Doppelkragen eines zartblauen Unisex-Oberteils zurecht, das auf einer Schneiderpuppe sitzt. Es ist ausschliesslich aus recycelten Männerhemden gemacht, verrät die Schülerin. Neu ist nur die weisse Kordel, mit der sich der Ausschnitt raffen lässt.
Das Modell ist für die Abschlusskollektion, die die Schüler im Team entwerfen und produzieren. Genauso wie der asymmetrischer Minirock daneben: eine Kreation aus einer fabrikneuen schwarzen Nike-Sporthose mit weissen Streifen und glänzendem Stoff in knalligem Orange.
Ein Labor für Mode
Der amerikanische Sportartikelkonzern gehört zu den Mäzenen ihrer Schule, erzählt die Schülerin stolz. Und dass Nike ihnen öfter Sportswear gibt, damit sie die Stücke nach ihrem Geschmack umdesignen.
Ein schlaksiger 20-Jähriger aus dem Nachbarviertel macht grosse Augen. Urbane Mode im Team designen, re- und upcyceln, ganz neue Outfits erfinden – die Schule ist genau das, was Ibrahim sucht.
Er hat schon länger ein eigenes Modeprojekt im Kopf. Letztes Jahr hat er sich an einer etablierten Pariser Modeschule beworben. Ibrahim runzelt die Stirn. «Sie haben mich gleich abgelehnt, weil ich nur ein Fachabitur in Energie- und Klimatechnik habe».
Sozial und avantgardistisch
In der Casa 93 ist das kein Handicap. Hier werden weder Schulzeugnisse noch Schulgeld verlangt. «Wir sind eine Mischung aus sozialem Projekt und moderner Modeschule», sagt Nadine Gonzalez, Gründerin und Direktorin der kleinen aber feinen Talentschmiede.
Drei Viertel der Schüler, die sie im ersten Jahrgang angenommen haben, kommen aus den Brennpunktvierteln der Banlieue. Junge Talente, die weder das Geld noch die Beziehungen haben, eine der renommierten Pariser Modeschulen zu besuchen oder einen Job in der Fashion-Branche zu ergattern.
Die elitäre Nachwuchspolitik der französischen Modeindustrie sei nicht nur ungerecht. Sie verhindere auch, dass sich die berühmte Pariser Mode erneuere, kritisiert die Direktorin und ehemalige Modejournalistin.
Die Pariser Mode von morgen
Dabei strotze gerade die multikulturelle Pariser Banlieue mit ihrem hohen Anteil junger Leute von Trendsettern und Modetalenten, die nur auf eine Chance warten. «Ihr Erfindungsreichtum ist unglaublich, sie sind nicht so formatiert», schwärmt Nadine Gonzalez.
Die Erkenntnis scheint nun langsam auch in Paris durchzusickern. Nach Nike haben unter anderem der Pariser Taschendesigner Jérôme Dreyfuss und der Verband der Haute Couture und Mode, in dem alle grossen Pariser Designerlabel organisiert sind, Patenschaften für die Banlieue-Talentschmiede übernommen.
Eine Hand wäscht die andere
Doch wäre es nicht das erste Mal, dass die grossen Designermarken in der quirligen Banlieue Modeideen und Trends abschöpfen, um sie an den jungen Kreativen vorbei zu vermarkten.
Die Casa 93-Direktorin verlangt deshalb von den Sponsoren ihrer Schule faire Gegenleistungen. Sie geben Stipendien, beteiligen sich mit ihren Unternehmen an zeitaufwendigen Schulprojekten und verpflichten sich, Schüler nachher für ein Praktikum in ihrem Haus zu übernehmen.
«Alle Seiten profitieren von den Partnerschaften», ist Nadine Gonzalez überzeugt. Ob ihre Schüler in der exklusiven Pariser Modewelt wirklich Fuss fassen, bleibt abzuwarten. Aber ein Sprungbrett ist die Banlieue-Modeschule allemal.