SRF: Was meint «Art Brut» genau?
Monika Jagfeld: Da muss ich etwas ausholen: Ursprünglich konstitutiv für Art Brut ist ihr Bezug zur Psychiatrie, denn in diesem Kontext hat alles begonnen. Patienten haben aus dem Bedürfnis heraus, sich gestalterisch auszudrücken, beliebige Materialien zusammengeklaubt und daraus Dinge geformt.
Ein schönes Beispiel ist der Stickteppich von Emma Mohr, welche im 19. Jh. dem deutschen Kaiser schreiben wollte, aber mangels Papier die Briefe stickte. Da die Ärzte in den damaligen Anstalten sehr unterschiedlich darauf reagierten, sind sicher eine Unzahl an Werken schlicht im Müll gelandet.
Und wie wurde diese Kunst dann einer breiteren Masse zugänglich?
Das haben wir zwei Leuten zu verdanken. Erstens: Hans Prinzhorn, ein deutscher Kunsthistoriker und später selber Arzt. Er trug an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg solche Kunst aus ganz Europa zusammen und publizierte darüber 1922 ein Buch mit dem Titel «Bildnerei der Geisteskranken», das in den Künstlerkreisen der Avantgarde kursierte und seinen Weg bis nach Paris fand.
Die zweite Person ist der französische Künstler Jean Dubuffet. Er war von Prinzhorns Buch so angetan, dass er nach dem Zweiten Weltkrieg in psychiatrische Anstalten ging um ebensolche Kunst zu sammeln. Er kreierte 1945 den Begriff «Art Brut» und meinte damit einen ungeschliffenen Rohdiamanten in Abgrenzung zur geschliffenen, brillanten Kunst – beide aber hatten für ihn dieselbe Strahlkraft.
Für Dubuffets Definition des Begriffes war es sehr wichtig, dass der Künstler unverbildet war und die Werke damit die Verkörperung von «antikultureller» Kunst darstellten.
Deshalb also auch der Englische Begriff «Outsider Art»?
Ja, Outsider Art ist der übergreifende Begriff für diese Kunst. Sie definiert sich also primär dadurch, dass sie abseits des regulären, professionellen Kunstbetriebs entsteht, zumeist von nicht ausgebildeten Künstlern stammt und die Kunst deshalb auch weniger «akademisch» ausfällt.
Für Dubuffet hatten Art Brut und brilliante Kunst dieselbe Strahlkraft.
Die Art Brut-Künstler verstehen sich oft weder als solche, noch sind sie in einem Künstlerkollektiv aufgehoben. Sie kümmern sich nicht um den Kunstmarkt und wissen auch oft gar nicht, was zeitgenössische Kunst ist oder sein will.
Woran erkennt man, dass ein Bild Art Brut ist, ohne dass man die Biographie des Künstlers kennt?
Noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein hat man versucht, Merkmale dafür herauszuarbeiten. Man lief immer in eine Sackgasse. Es ist nämlich so: Immer wenn man denkt, man habe ein Indiz gefunden, dann findet man dieses genauso in der zeitgenössischen Kunst wieder. Eine klare Erkennbarkeit ist – zumindest für den ungeübten Blick – nicht gegeben.
Die Qualität von Kunstmarkt-Kunst und Art Brut ist absolut gleichwertig.
Das heisst aber auch, dass die Qualität von Kunstmarkt-Kunst und Art Brut absolut gleichwertig ist. Insgesamt gesprochen, kann man sagen, dass sogenannte naive Künstler nicht naturalistisch arbeiten und die reale Welt zwar darzustellen versuchen, aber dies immer aus ihrer ganz eigenen Perspektive und damit mit gewissen sehr kreativen Verzerrung erfolgt.
Gibt es einen Kunstmarkt für diese Kunst?
Ja, der potenteste ist in den USA, vor allem in New York, dort sind auch die Preise der Werke höher als hier. Aber auch in Paris findet jährlich eine Outsider Art Fair statt. Die Eigenart dieses Marktes ist, dass einige Künstler aufgrund psychischer oder kognitiver Beeinträchtigungen gar nicht marktfähig sind und eine Vormundschaft brauchen.
Auch widerspricht das Konzept des Kunstmarkts eigentlich dem Ideal der Art Brut. Manche sagen deshalb, diese Künstler müssten davon ferngehalten werden, da ihr Kunstschaffen sonst «verdorben» wird, denn Art Brut müsse so autonom wie möglich bleiben.
Wo sehen Sie die Errungenschaften der Art Brut?
Grundsätzlich scheint die Kunst für den Menschen als etwas sehr Elementares, denn egal wie schlecht es ihm geht, der Mensch kreiert etwas. Dieses Bedürfnis versiegt nicht, und genau das sieht man in der Art Brut.
Faszinierend ist auch, wie Künstler in ihrem Schaffen ihr eigenes Ich zurückerhalten, sie erkennen sich selbst im Gestalteten, werden sich begreiflich, im wahrsten Sinne des Wortes. Und oftmals war die Kunst natürlich auch eine Hilfe für die von der Gesellschaft Ausgeschlossenen wieder zurück in die Gesellschaft zu finden, sich zu integrieren und Anerkennung zu bekommen.
Das Gespräch führte Olivia Röllin.
Sendung: SRF 1, Sternstunde Kunst, 30.04.2017, 11:55 Uhr