Der Himmel scheint hier endlos zu sein. Er ist blau und schwer und fällt bis auf die Strasse.
Sofort muss ich an Albertines Bilderbuch «Les Oiseaux» («Die Vögel») denken, bei dem ein roter Lastwagen durch die Wüste fährt. Der Himmel dort ist genauso blau und schwer wie dieser.
«Ohne Zweifel bin ich inspiriert von dieser Landschaft», sagt Albertine, die ihren Vornamen als Künstlernamen gewählt hat. Sie ist eine rundliche, kleine Frau mit einem freundlichen Gesicht und kurzen, schwarzen Haaren.
Künstlerin durch und durch
Wir stehen vor ihrem Haus, in dem sie mit ihrem Mann, dem Autor Germano Zullo, und einer Katze lebt. Es ist ein alter Bauernhof und gehört ihrem Vater. Seit über 20 Jahren wohnt die 52-Jährige hier. Kaum im Haus, schlingt Albertine einen fliederfarbenen Schal wie einen Turban um ihren Kopf.
Sie bezeichnet sich als Zeichnerin, das sei ihr lieber als Illustratorin. «Wer illustriert, bedient einen Text mit Bildern», erklärt sie. Zeichnen jedoch sei umfassend: «Zeichnen ist eine Ansage, eine Haltung. Man zeichnet die Welt.»
Kreativ und ordentlich
Ihre Leidenschaft ist augenfällig: Die hohen Wände ihres Daheims sind bestückt mit unzähligen Bildern. Überall stehen Skulpturen. Hier also entstehen ihre verspielten und poetischen Bilder und Geschichten, beobachtet mit einem messerscharfen Verstand.
Ihr Atelier besteht aus zwei hellen Zimmern. Was mich überrascht, ist die pingelige Ordnung: Die Stifte sind nach Farben geordnet, die Utensilien stehen da, als hätte jemand sie mit der Wasserwaage drapiert.
«Wenn ich arbeite, herrscht ein riesiges Durcheinander», erklärt sie lachend. «Doch dann räume ich alles auf, um die Arbeit nicht bis in den Schlaf zu tragen». Die Ordnung helfe ihr, abzuschalten. Jeden Tag male und zeichne sie bis zu zwölf Stunden.
Einfach losmalen
Manchmal fertigt sie Objekte. Hier steht eines, das aussieht wie ein Modell für ein Bühnenbild. Nur, dass da ein baumlanger Mann am Boden liegt, der aus den Seitenaufgängen von Monstern beäugt wird. «Am Theater gefällt mir, dass man eine Welt in einer anderen Welt erschaffen kann.» Zeichnen sei ein Spiel, so wie Theater.
Sie malt mit Vorliebe beschauliche Bilder, in denen Platz ist für die Einsamkeit. Meist skizziert sie kurz, um die Komposition des Bildes zu bestimmen und legt dann gleich mit dem Pinsel los. «Falls das Bild misslingt, beginne ich lieber wieder von vorne. Hauptsache, das Ganze geschieht spontan».
Jetzt nimmt sie ein Blatt Papier und beginnt zu zeichnen: entschlossen, selbstbewusst und temperamentvoll. Sie hat einen schnellen, festen Strich.
«Nobelpreis» der Jugendliteratur
Während sie zeichnet, reden wir über ihre Auszeichnung, den Hans Christian Andersen-Preis. Sie habe sich sehr über die Anerkennung gefreut, denn Zeichnen sei ein einsamer Beruf voller Zweifel: «Der Preis beweist mir, dass ich Talent habe.» Sie werde ihn mit Germano Zullo, ihrem Ehemann und Autor ihrer bekanntesten Werke, teilen.
Dass sie die erste Frau aus der Schweiz sei, die diesen Preis gewann, bedeute ihr wenig. «Ich habe genauso männliche Seiten in mir wie weibliche.» Ihr Frausein mache sie nicht als Künstlerin aus, so Albertine.
«Ich möchte das Unsichtbare sichtbar machen und damit die Existenz interessanter. Zeichnen ist ein Ort der Freiheit, an dem man aber durchaus die Wahrheit sagen kann.» In ihren Bildern macht Albertine dies vor.