1000 Identitätsfotos hängen fein säuberlich aufgereiht an einer Wand im Kunstmuseum Thun. Einzelne Details sind noch zu erkennen. Doch die Fotos haben ihre ursprüngliche Funktion verloren. Die Künstlerin Latifa Zaffar Attaii hat die Gesichter auf den Bildern mit farbigem Garn überstickt.
«Meine Arbeiten drehen sich immer um Identität», sagt die junge afghanische Künstlerin. Sie lebt in Teheran und gehört der schiitischen Ethnie der Hazara an. Sie wird in Afghanistan seit Jahrzehnten diskriminiert.
Für ihre Arbeit verwendete sie die Identitätsfotos von 1000 Hazara. Hinter jedem Bild stecke eine individuelle Geschichte. Und doch hätten alle dasselbe erlebt, erzählt die Künstlerin.
Keine Flüchtlingsschau
Latifa Zaffar Attaii ist eine von knapp 20 afghanischen und nicht-afghanischen Künstlerinnen und Künstlern, die in der Ausstellung «The Other Kabul» zu sehen sind.
Kuratorin Susann Wintsch legt Wert darauf, keine Flüchtlingsschau kuratiert zu haben. Sie kennt die Kunstszenen in Afghanistan und Iran bestens und versammelt in dieser Ausstellung auch Künstlerinnen und Künstler aus Indien und Pakistan oder aus der Schweiz und der Türkei.
Gegenwartskunst aus Afghanistan
So zeigt die Ausstellung «The other Kabul. Remains of the Garden» wie international Gegenwartskunst funktioniert. Denn diese Sprache wird überall gesprochen. Es ist erstaunlich, wie gut sich die Werke, die an unterschiedlichen Ecken der Welt entstanden sind, ergänzen.
Im ersten Saal etwa begegnet eine Metallskulptur der Schweizer Künstlerin Ursula Palla den Grafiken von Arshi Irshaad Ahmadzai, die bis vor kurzem noch in Kabul lebte. Pallas Skulptur zeigt ein scheinbar fragiles Weidenröschen. Tatsächlich ist sie eine Pionierpflanze, die als allererste Brachen voller Schotter und Steine zurückerobert.
Die Bedeutungen von Gärten
Ahmadzais grafische Blätter umkreisen ornamental oder geometrisch abstrakt den legendären Garten Bagh-e Babur in Kabul. Dieser wurde im ersten Taliban-Krieg zerstört, vermint und nach dem Krieg rasch wieder aufgebaut.
Er ist ein Ort für Picknicks und ungezwungene Treffen, ein Sinnbild für die Resilienz einer Gesellschaft, die sich ein ziviles Leben aus Trümmern erst wieder aufbauen musste. Nur um sie vor einem Jahr mit der Rückeroberung des Landes durch die Taliban erneut zu verlieren.
Die afghanischen Künstlerinnen und Künstler sind in dieser internationalen Ausstellung in der Mehrzahl. Ihre Arbeiten reihen sich ein in den Kontext zeitgenössischer Kunst und spiegeln zugleich ihre spezifischen Erfahrungen wider.
Licht ins Dunkel
Der junge Maler Baqer Ahmadi ist nicht nur von der Machtübernahme der Taliban und seiner Flucht gezeichnet, sondern auch vom Tod seines Vaters. Er zeigt zwei Videos: Im einen wird er mit Mehl bestreut, im anderen mit Honig übergossen.
Eine rätselhafte Arbeit, auch für den Künstler selbst: «Ich kann meinen Erlebnissen nicht einfach einen Titel geben. Aber Bilder dafür finden – das kann ich.» Wie das Licht ins Dunkel kommt: Das interessiert den jungen Künstler im übertragenen, aber auch im ganz konkreten zeichnerischen Sinn.
Die Ausstellung ist vieles zugleich: eine Momentaufnahme afghanischer Künstlerinnen und Künstler, denen die Flucht gelang. Eine Feier der Universalsprache der Kunst, die überall verstanden wird. Und eine Meditation über die utopische, gesellschaftliche und zivilisatorische Kraft von Gärten.