Am 24. Juni 1995 wird der verhüllte Reichstag in Berlin offiziell eröffnet. 200 Bergsteiger haben in halsbrecherischer Aktion insgesamt 75'000 Quadratmeter silbrig bedampften Stoff appliziert. Die Berliner kommen und nicht nur sie – auch jede Menge Touristen.
An Werktagen strömen zwischen 100'000 und 150'000 zum Reichstag. An Wochenenden bis zu 500'000 Menschen pro Tag. Der Erfolg: Berlin hat ein Sommermärchen. Über 20 Jahre Planungs-, Durchsetzungs- und Umsetzungsarbeit steckten im verhüllten Reichstag.
Darf man das?
Drei Bundespräsidenten, die obersten Hausherren, haben das Projekt abgelehnt. Eine Bundestagsdebatte muss sogar stattfinden nach der Devise: «Darf man das?» Die Abstimmung geht positiv aus.
Der Zeitgeist 1995: Die Mauer ist gefallen, vieles scheint möglich, das man vorher nicht für möglich gehalten hätte.
Vor der Wende wäre die Aktion, wie Christo selber sagte, als unglückliche Aktion im Geist des Kalten Krieges eingestuft worden. Jetzt, 1995, gerade mal sechs Jahre nach dem Mauerfall, wird der verhüllte Reichstag zu einem Symbol eines neuen Geistes in Deutschland, zum Symbol für ein friedfertiges und vereintes Deutschland, das sich neu formuliert.
Und so überwindet dieses temporäre Kunstwerk damals die Schranken der Bürokratie, die Bedenken der Politik und erreicht Bürger, begeistert sie für Kunst ganz nach der Devise: Mit dem Kopf durch die Wand auf die Strasse. Nach zwei Wochen ist der Zauber vorbei. Wer diese zwei Wochen erlebt hat, hat sie nie mehr vergessen.
Verhüllte Bäume in Riehen
Drei Jahre später. Riehen, Fondation Beyeler. Christo und Jeanne-Claude verhüllen Bäume mit licht-, wasser- und luftdurchlässigen Stoffen.
Die Bäume rund um die Fondation stehen auf einmal wie kubistische Skulpturen in der Landschaft. In der Fondation drin: eine Ausstellung über die «Magie der Bäume». Da gibt es vieles zu sehen – von Chagal, Hodler, Mondrian und vielen anderen mehr. Die Menschen strömen.
Kunst im Museum, Kunst draussen – vor dem Museum. Kunst und Welt – wo ist da die Grenze? In Riehen entsteht, wie überall, wo Christo und Jeanne-Claude arbeiten, die Poetisierung der Welt: Man steht da, schaut auf die verhüllten Bäume, umwerfend schön sind sie, wenn die Sonne auf die Stoffe fällt und die Äste plötzlich durchschimmern, sieht man das Leben der Bäume vor sich. Man sieht das Blut durch der Äste Adern strömen.
So schön und leicht das auch alles anmutet, die Stimmung beim Betrachten ist immer gemischt: Es ist immer auch Melancholie dabei, wie ein Firniss, der sich über alles legt. Weil man weiss: Bald ist das alles wieder verschwunden und alles ist wieder wie vorher.
Nach-denken nicht Melancholie
Melancholie sei für Christo ein zentraler Begriff, hat Jeanne-Claude einmal über ihren Mann gesagt. Melancholie, nicht im Sinne von Traurigkeit sondern im Sinne von «Nachdenken über».
Nach-denken. Selten hat man die ursprüngliche Bedeutung des Wortes so gut verstanden.
Nach-denken – genau das machen Christo und Jeanne-Claude. Und das mit der grössten planerischen Hartnäckigkeit und mit der grössten Leichtigkeit in der Inszenierung. Das zeichnet ihre Kunst im öffentlichen Raum aus.
Ihrer Kunst ist aber nicht anzumerken, welche Hürden sie haben nehmen müssen. Die Hürden waren in Berlin grösser als in Riehen. Logisch. Ernst Beyeler wollte das Projekt unbedingt. Ihn interessierte die Verbindung von Kunst, Politik und Ökologie. Das alles gehöre für ihn sowieso zusammen, sagte er damals sinngemäss.
Wünschen hilft – und dranbleiben
Die Kunst von Christo und Jeanne-Claude erzählt von diesem kindlichen Glauben an Wunder. Und dass diese eintreten werden, wenn man nur unbeirrbar daran glaubt.
Ihre Kunst hat nichts Ewiges. Sie ist frei, schafft Verbindung, Begegnung, Inspiration. Sie ist feinstofflich flüchtig wie Gas. Man kann sie nicht festhalten. Sie ist wie visueller Schall: Sie ist alles und dann weg.
Man kann sie weder konservieren noch kaufen – nur in Erinnerung behalten. Christo hat immer plädiert, seine Kunst sei vergänglich und erinnere an die Vergänglichkeit. Sie kommt. Sie geht. Wie wir.