Erinnern Sie sich an den 11. September 2001? Wo waren Sie, als zwei Flugzeuge in die Twin Towers in New York rasten? Erinnern Sie sich an den 7. Januar 2013? Wo waren Sie, als zwei radikale Islamisten, die Redaktion der französischen Satire-Zeitung Charlie Hebdo angriffen und ein Blutbad anrichteten? Das waren einschneidende Ereignisse, die die Welt nachhaltig verändert haben.
«Damit begann ein neues Zeitalter»
Dazu gehört für den französisch-jüdischen Comic-Autor Joann Sfar auch der 7. Oktober 2023. Der Tag, an dem die radikal islamistische Hamas Israel angriff. Diesem Tag und der Zeit danach widmet Joann Sfar seinen aktuellen Comic «Nous vivrons» (Wir werden leben).
Am 7. Oktober 2023, so zeichnet es Joann Sfar in seinem Comic, feiert er seinen Geburtstag nach. Ein Abend mit Freunden, mit Juden und mit Muslimen. Ein Abend mit ausgelassener Stimmung in Sfars Pariser Lebensrealität, der jäh unterbrochen wird. «Damit begann ein neues Zeitalter», sagt Joann Sfar. Er schreibt von einem kollektiven Trauma, das grosse Teile der jüdischen Bevölkerung in eine Art Schockstarre versetzte, eine Gewaltspirale, die kaum zu durchbrechen sei.
Ein Risiko: hebräische Schrift auf dem Cover
In «Nous vivrons» verarbeitet er die Angst, der jüdischen Bevölkerung und damit auch seine eigene und lehnt sich gleichzeitig auf gegen das, was gerade in Gaza passiert.
Er illustriert die Erschütterung, die der Angriff der Hamas in der jüdischen Gemeinschaft ausgelöst hat: weinende, ängstliche Gesichter, darunter auch sein eigenes, blicken den Leserinnen und Lesern schon vom Cover entgegen. Doch daneben stehen fast trotzig zwei hebräische Buchstaben, das Wort «Chai».
Dieses «Chai» verkörpert für Joann Sfar die Hoffnung. Chai, also Leben, sagt der Zeichner. Das sei weder jüdisch noch zionistisch, nicht einmal religiös. Daher habe es ihn auch tief erschüttert, dass ihn einige Buchhändler warnten: Hebräische Schrift auf dem Cover, das könne spalten. Denn die Stimmung in Frankreich ist seit dem 7. Oktober extrem aufgeheizt. Antisemitische Gewalttaten haben massiv zugenommen.
In «Nous vivrons» erzählen Jüdinnen und Muslime
Sfar allerdings ist überzeugt: Im Dialog der Versöhnung müsse sowohl die jüdische, als auch die muslimische Stimme gehört werden. «Und nicht die israelische oder die palästinensische», sagt er mit Nachdruck.
Diese Stimmen sucht und untersucht Sfar in «Nous vivrons». In Frankreich lässt er Jüdinnen und Juden erzählen: davon, dass sie ihre Namen auf den Briefkästen und in den sozialen Medien ändern. Davon, dass jüdische Mütter Angst haben, den hebräischen Namen ihrer Kinder allzu laut in der Öffentlichkeit zu rufen. Für seine Recherchen ist er auch nach Israel gereist. Dort trifft er auf Palästinenser, die gemeinsame Essen organisieren, bei denen sich Menschen aller Glaubensrichtung treffen.
«Die Mörder aller Lager sind objektiv Verbündete»
«Das hat mir Hoffnung gegeben», sagt Sfar. Die Begegnungen in Frankreich und Israel hält er fest: intim und einfühlsam gezeichnet, mit dem für ihn typischen feinen Pinselstrich – nur dieses Mal in Schwarz-Weiss.
«Der Feind ist nicht der Palästinenser oder der Israeli, es ist nicht der Muslim oder der Jude», schreibt Joann Sfar. Der Feind sei derjenige, der entscheidet, dass Kinder oder Zivilisten Ziele sind. «Die Mörder aller Lager sind objektiv Verbündete.»