Die Puppe, die das Rätische Museum in Chur 1986 in seine Sammlung aufgenommen hat, ist kaum grösser als ein Spielzeug. Dennoch haftete ihrem Äusseren etwas Unheimliches an: «Sie hat explizit dargestellte Geschlechtsteile, echtes Menschenhaar auf dem Kopf und ein irritierendes Gesicht mit einem aufgerissenen Mund», sagt Andrea Kauer, Direktorin des Rätischen Museums. Explizit dargestellte Geschlechtsteile heisst: grosse Brüste und entblösster Unterleib.
Sicher ist: Die Puppe war kein Kinderspielzeug
Aus dem Grund hat das Museum auf der Karteikarte, welche die Puppe bescheibt, auch notiert, die Älpler hätten sie als Ersatzfrau benutzt.
Ob das tatsächlich stimmt, ist nicht erwiesen. Klar sei einzig, dass die Puppe kein Kinderspielzeug war. Darum sei sie nicht nur unheimlich, sondern auch geheimnisvoll, sagt Andrea Kauer.
Geheimnisvoll und unheimlich – diese Kombination fasziniert die Museumsbesucher. Kaum ein Objekt provoziere derart viele Reaktionen wie die Puppe. «Sie löst Schauder aus, manche ertragen ihren Anblick kaum», sagt Kauer, «andere sind fasziniert oder haben Mitleid; manche Leute haben das Gefühl, da stecke etwas sehr Trauriges dahinter».
Über 70 Sennentuntschi-Geschichten
Fasziniert vom Sennentuntschi war auch Stephan Kunz, Direktor des Bündner Kunstmuseums in Chur. Er hatte die Idee zur Sennentuntschi-Sonderausstellung.
Die Sage des Sennentuntschi sei weit verbreitet, sagt er. Allein in der Schweiz kenne man 70 verschiedene Geschichten von Puppen, die von Älplern missbraucht werden, plötzlich lebendig sind und sich dann an ihren Peinigern rächen.
Der Stoff eignet sich auch für die Bühne und Kinoleinwand. Hansjörg Schneiders Dialektschauspiel von 1972 hat vor allem nach seiner Ausstrahlung durch das Schweizer Fernsehen (1981) heftige Proteste ausgelöst (siehe Video unten). Trotzdem wurde das Skandalstück weiter auf Theaterbühnen aufgeführt.
Das einzige reale Sennentuntschi
Vor fünf Jahren war «Sennentuntschi» des Schweizer Regisseurs Michael Steiner der erfolgreichste Film des Jahres. Trotz all dieser Aufmerksamkeit: Handfestes zum Sennentuntschi gäbe es wenig, sagt Stephan Kunz: «Eigentlich hat man kein Zeugnis davon, ausser die Geschichte; das Rätische Museum besitzt das einzige real existierende Sennentuntschi – und darum hat es mich interessiert, um diese Puppe herum eine Ausstellung einzurichten.»
Weil das Kunstmuseum derzeit geschlossen ist, konnte Kunz auf die Sammlung seines Museums zurückgreifen. Neben der Puppe sind Bilder der Schweizer Künstlerinnen Klodin Erb und Eliane Rutishauser ausgestellt. Sie haben eine ganze Serie von Sennentuntschi-Bildern gemalt, hinzu kommen Fotos von Menschen, die als Puppe verkleidet sind.
Mal Opfer, mal Täterin
Auf den Bildern sitzt das Sennentuntschi einmal verträumt im Gras, tanzt ein anderes Mal wild im Schnee oder liegt lasziv auf dem Sofa. Die verschiedenen Facetten passen für Stephan Kunz gut zur ausgestellten Puppe – auch sie habe unterschiedliche Gesichter: «Mal Mädchen, mal junge Frau, mal Opfer, mal Täter, mal hat sie etwas Unschuldiges, mal etwas Unheimliches; damit bringt sie die verschiedenen Aspekte zum Ausdruck, die ich in dieser ursprünglichen Puppe sehe.»
Auch in der Sage wechselt das Sennentuntschi die Rollen: Es wird vom Opfer zum Täter, von einer misshandelten Puppe zu einem rachsüchtigen Wesen. Genau das macht seine Faszination aus.
Sendung: Radio SRF1, Regionaljournal Graubünden, 8.10.2015, 17:30 Uhr/
Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 11.10.2015, 7:20 Uhr