Das quadratische Schwarz-Weiss-Bild zeigt eine Shoppingmeile in New York: Zwei vornehme Frauen, vielleicht Mutter und Tochter, schauen in ein Schaufenster. Rechts im Bild, unscharf im Halbdunkel, in einem ungebügelten Kleid und mit Hut, steht Vivian Maier.
Sie hält ihre Rolleiflex-Kamera auf Brusthöhe, schaut von oben in den Sucher und fotografiert einen Spiegel – so fängt sie nicht nur unbemerkt die beiden Frauen ein, sondern projiziert auch sich selbst ins Bild. Für den Kurator der Ausstellung Daniel Blochwitz ist das ein typisches Foto von Vivian Maier: «Es zeigt, wie Vivian Maier zum einem grossen Teil arbeitete. Sie positionierte sich gut auf der Strasse – an einem Ort, wo sie nicht sofort wahrgenommen wurde – und baute so sehr komplexe Lagen im Bild auf.»
Nur auf ihren Bildern war sie sichtbar
Auf vielen ihrer Bilder ist MaierTeil der Szene: Mal sieht man sie in Fensterscheiben, mal entdeckt man sie in der Reflexion eines Aschenbechers, mal sieht man nur ihren Schatten: «Ich glaube, sie wollte damit sagen: ‹Ich bin hier. Ich nehmt mich zwar nicht wahr, aber weil ihr mich nicht wahrnehmt, muss ich mich selbst ins Bild holen›», so Daniel Blochwitz.
Dass ihre Fotos oft auch Selbstporträts sind, macht sie geheimnisvoll: Weil wir so wenig wissen über das fotografierende Kindermädchen. Geheimnisvoll sind die Fotos auch, weil sie keine Titel, kein Datum, keine Ortsangaben haben. Aber sie sprechen für sich. Sie zeichnen ein Amerika der Klassenunterschiede: Bilder von bettelnden Obdachlosen hängen neben jenen von aufwendig frisierten Hinterköpfen reicher Frauen.
Auf Augenhöhe mit den Menschen
Wir flanieren mit Vivian Maier durch die Strassen und sehen alle Facetten des urbanen Lebens der 1950er- und 1960er-Jahre: Arbeiter, Zeitungskioske, Verkehrsgewusel, verlorene Gegenstände. Besonders Kinder fängt Maier eindrücklich ein – mal vertieft ins Spiel, mal zutraulich in die Kamera schauend.
Ich bleibe hängen an einem Foto mit einem weinenden Jungen. Nur die Hand der Mutter ist im Bild, sie hat den Kleinen fest im Griff. Daniel Blochwitz weist mich auf ein Detail hin: «Was ich unheimlich schön finde an diesem Bild – auch wenn es traurig ist – sind die drei Tränentropfen, die auf der Jacke des Jungen gelandet sind und unterstreichen, dass es nicht nur eine kurze, sondern eine tiefe Emotion war.» Das Bild hängt auf Brusthöhe. Etwa aus dieser Höhe hat Maier mit ihrer Rolleiflex fotografiert. Es ist die Augenhöhe von Kindern. Und für sie ist auch dieser Teil der Ausstellung kuratiert.
Nanny und Vollblutkünstlerin
Im Laufe ihres Lebens hat die Autodidaktin Vivian Maier 150'000 Bilder gemacht. Die Qualität sei aussergewöhnlich hoch, sagen Experten. Das findet auch Kurator Daniel Blochwitz: «Für mich ist sie eine Vollblutkünstlerin. Heute wollen Studenten, die von der Kunsthochschule kommen und drei gute Bilder gemacht haben, gleich eine Ausstellung machen. Vivian Maier hat sich nicht um ihre Karriere, um Ausstellungen, um die Rezeption ihrer Bilder gekümmert. Ihr ging es um das Bildermachen.»
Die Rezeption von Vivian Maiers Werk ist heute in der Hand des Kunstmarktes – und der Medien, die immer und immer wieder ihre Geschichte erzählen. Was fehlt: die kunsthistorische Einordnung, die Wertschätzung der Institutionen und der reine Fokus auf ihr Werk. Genau deswegen macht die Photobastei mit der Ausstellung «Taking the Long Way Home» einen wichtigen Schritt. Und ändert nebenbei die Wahrnehmung von Vivian Maier: Von der fotografierenden Nanny wird sie zur aussergewöhnlichen Fotografin, die zum Geld verdienen Kinder hütete.
Sendung: Kultur kompakt, Radio SRF 2 Kultur, 07.03.2016, 16:20 Uhr.