1864 kommt Adolf Wölfli als jüngstes von sieben Kindern auf die Welt. Sein Vater ist ein Taglöhner, Säufer und Dieb. Als seine Mutter 1873 stirbt, verdingt sich Wölfli als Knecht und Handlanger im Emmental.
Seine Jugendjahre sind geprägt von harter Arbeit, Armut und Geringschätzung gegenüber seiner Person. Mehrere Male verliebt er sich, jedes Mal aber wird die Liebe enttäuscht. Meistens, weil Wölfli den Eltern der Mädchen nicht genügt.
Mitte 20 versucht Wölfli, zwei minderjährige Mädchen zu vergewaltigen, worauf man ihn zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach der Entlassung versucht er es erneut. Diesmal wird er in der Psychiatrischen Klinik untersucht, dort diagnostiziert ihm der Arzt Walter Morgenthaler Schizophrenie. 1895 wird er schliesslich in die Anstalt Waldau bei Bern eingeliefert, die er bis zu seinem Tod 1930 nicht mehr verlassen sollte.
Er zeichnet wie ein Besessener
In der Klinik Waldau beginnt er auf Drängen seines Arztes Walter Morgenthaler zu zeichnen und zu schreiben. Wölfli – oft schwermütig, aufbrausend, jähzornig und aggressiv – findet im Gestalterischen eine Möglichkeit zu Konzentration und Ruhe. Am liebsten zeichnet er in seiner Zelle, wo ihn niemand stören oder kritisieren kann. Wie ein Bessessener bannt er Muster, Buchstaben und Zahlen auf Papier – so lange, bis alle Blätter voll und sämtliche Blei- und Buntstifte aufgebraucht sind.
Jürg Laederach, Autor und Kenner von Wölflis Werk, spricht von «Hochenergiezeichnungen». Wölfli habe während des Zeichnens und Schreibens wahrscheinlich zwischendurch aufgeschnaubt, mit dem Fuss gestampft oder mit der Hand auf den Tisch gehauen.
Laederach ist überzeugt, dass Wölfli zwischen Buchstaben, Bildern, Symbolen und Zahlen keinen Unterschied machte. Buchstaben waren für ihn Gestaltungselemente, die er einsetzte, um ein Gesamtbild zu schaffen.
Der Verdingbub wird zu St. Adolf der II.
Wölfli hat mithilfe von Buchstaben eine imaginierte Welt aufs Papier gebracht. Eine Welt voller Reisen in ferne Länder, voller Abenteuer und Kämpfe. Mittendrin steht er: Wölfli. Nun aber nicht als Verdingbub, Straftäter und Geisteskranker, sondern als St. Adolf der II., weltgewandt und mächtig.
Den Stoff für seine Geschichten schöpft Wölfli aus seiner Erinnerung, aber vor allem aus den verschiedenen Illustrierten, die in der Anstalt aufliegen. Auch einen Atlas, sowie Stadtkarten und Kalender gab es dort. «Aus ihnen konnte er seine Wölflische Milch melken», sagt Laederach.
Er liest von fernen Königen und schönen Damen, reisst Werbungen und Bilder raus, klebt sie in seine Hefte und setzt sie in neue Zusammenhänge. Wölfli unterscheidet nicht zwischen verschiedenen Medien und Kunstgattungen. In seinen Bildern verwischen sich zeichnerische Symbole mit Buchstaben und Musiknoten.
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Kritik ertrug er keine
Er erträgt keine Kritik, weder an sich, noch an seinem Werk. Er spricht davon, bald berühmt zu sein und Ländereien zu kaufen. Zu Ländereien kommt er nicht, sein Werk aber findet bereits zu seinen Lebzeiten Beachtung. Von Walter Morgenthaler etwa, aber auch von Kunst- und Psychiatrieinteressierten ausserhalb der Anstaltsmauern.
Bei seinem Krebstod 1930 hinterlässt Adolf Wölfli fast 30‘000 Seiten voll mit seiner «St.-Adolf-Riesen-Schöpfung», wie er sein Werk gerne nennt. In diesem Titel schwingt Adolf Wölflis Grössenwahn mit, der sich in seinem Werk zeigt. Seinen Kopf stellt er oft mit einem Kreuz auf dem Haupt dar, das ihn als heiligen kennzeichnet.
Der Beginn von Art brut
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Nach seinem Tod wird es still um Wölfli. Erst nach 1945 wird er vom Künstler Jean Dubuffet wiederentdeckt. Im Interesse für eine «direkte und ungeübte Kunst» entwickelt er den Begriff Art brut und gründet zusammen mit dem Surrealisten André Breton die Compagnie de l’Art brut.
Auch später in den 70er- und 80er-Jahren waren Adolf Wölflis faszinierende Werke immer wieder in Ausstellungen zu sehen. Bis heute ist die Faszination für diesen Menschen ungebrochen. Verständlicherweise: Denn hier sprach, hier zeichnete und schrieb einer, der eigentlich zum Stummsein verdammt war.