«Tut mir leid, dass ich zu spät bin», sagt Chelsea Manning, als sie zur Vernissage von «A Becoming Resemblence» erscheint.
Dann: «Wow!» Kein Wunder: Ihr starren 30 mögliche Versionen ihrer selbst entgegen, in schwarz, weiss, gelblich und braun. Weibliche, männliche, androgyne.
Die DNA einer Ausstellung
Die Masken hängen von der Decke der Fridman Gallery und bilden das Herzstück der Ausstellung in New York. Manning ist nicht nur das Sujet der Schau. Sie hat dafür buchstäblich die DNA geliefert.
Die Gesichter entstanden aufgrund von Haaren und Wangenabstrichen, die sie der Künstlerin Heather Dewey-Hagborg aus dem Gefängnis schickte. Manning sass im Gefängnis, weil sie 2010 tausende geheimer Dokumente der US-Armee über die Kriege im Irak und in Afghanistan an die Enthüllungsplattform Wikileaks weitergeleitet hatte.
Vor dem Verschwinden bewahrt
Manning würde da noch immer sitzen. Präsident Barack Obama erliess ihr aber in den letzten Tagen seiner Amtszeit den Rest der 35-jährigen Haftstrafe. Sie wäre auch noch immer ein Mann namens Bradley, hätte sie sich hinter Gittern keiner Geschlechtsumwandlung unterzogen. Sie wäre noch immer Landesverräter und Schiessbudenfigur in einem, hätte ihr Schicksal nicht plötzlich einen Purzelbaum vollführt.
Die Zusammenarbeit mit Heather Dewey-Hagborg war ein erster Anlauf dazu. Ein Magazin hatte Manning nach aktuellen Bildern gefragt. Aber die amerikanische Strafjustiz verbietet Fotos von Inhaftierten.
Also kam die Idee, stattdessen DNA-Porträts zu verwenden. Die sind Dewey-Hagborgs Spezialität. Chelsea Manning sah darin eine Chance, in einer Zeit des Bilderkults vor dem Verschwinden bewahrt zu werden.
Eine erfüllte Prophezeiung
Dieser erste Kontakt mit der Künstlerin führte zu weiteren Projekten. Darunter 2015 zu einem Comic, der nun ebenfalls in Auszügen in der Fridman Gallery hängt. Darin wird Manning begnadigt und besucht danach eine Ausstellung von und über sich.
Der Comic erschien am 17. Februar 2017. Am Nachmittag desselben Tages erfüllte Präsident Obama die Prophezeiung, ohne davon die leiseste Ahnung zu haben.
«Es war ein politisches Wunder, ein Schock, ein ungeheuer beflügelnder Moment für uns alle», erinnert sich Heather Dewey-Hagborg. Dadurch angespornt, machten sie und Manning sich daran, auch den zweiten Teil der Prophezeiung zu realisieren.
Identität ist unendlich wandelbar
Der Galerist Iliya Fridman bot dafür seine Räume in Soho an. Ihm gefiel die Verbindung von Bio-Technologie, Politik und Ästhetik: «Diese Themen sprechen ganz verschiedene Kreise an. Leute, die sonst kaum miteinander zu tun haben. Und was ist im Augenblick wichtiger, als die Leute dazu zu bringen, miteinander zu reden?»
Zum Reden gebracht hat die Ausstellung Publikum und Presse gleichermassen. Die Botschaft ist klar: Ein Ich verfügt über unzählige Ausdrucksmöglichkeiten, eine Identität ist unendlich wandelbar.
Symbolfigur einer kulturellen Bewegung
Chelsea Manning hat dem genetischen Determinismus den Kampf angesagt. Sie ziert inzwischen als Symbolfigur einer kulturellen Bewegung die Titelseiten von Prestige-Zeitschriften wie dem New York Times Magazine.
Sieben Jahre Haft sind für sie zum Befreiungsschlag geworden. Und mit ihren 29 Jahren hat Chelsea Manning die meisten Varianten ihrer selbst noch vor sich.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 16.08.2017, 08:20 Uhr