Die verheerende Tsunamiwelle von 2004 im Indischen Ozean? Watte. Die Wasseroberfläche von Loch Ness, aus der das Monster «Nessie» auftaucht? Klarsichtfolie. Und die Mondoberfläche, auf die sich der Fussabdruck Edwin Aldrins 1969 eingräbt: Zementpulver.
Watte, Karton, Kleber: Mit diesen Materialien bauen die Zürcher Fotografen Jojakim Cortis und Adrian Sonderegger Aufnahmen, die sich ins kollektive Gedächtnis eingeprägt haben, als dreidimensionale Modelle nach. Dann fotografieren sie diese mitsamt den benutzten Utensilien ab.
Akribische Bildanalyse
Als «forensische Detektive» bezeichnen sich die beiden Künstler. Erst wird die Kamera positioniert, anschliessend bauen Cortis und Sonderegger die Szenerien vor der Linse nach.
Bis zu tausend digitale Bilder schiessen die beiden zum Abgleich von Modell und Vorlage, bevor sie mit dem Resultat zufrieden sind. Akribische Bildanalyse und Bastelei über mehrere Wochen oder gar Monate hinweg – und am Ende werden die Modelle zerstört.
Humorvoll und tiefgründig zugleich
Über 40 dieser raffinierten Spielereien sind in der Ausstellung «Double Take» in der Winterthurer Fotostiftung zu sehen. Sascha Renner, Kurator der Ausstellung, erklärt seine Faszination für Cortis und Sondereggers Schaffen: «Die Arbeit ist raffiniert, humorvoll und tiefgründig zugleich. Sie lädt ein zu einem vergnüglichen Streifzug durch die Fotogeschichte, lässt uns aber auch immer wieder daran zweifeln, was unsere Augen sehen. Damit wecken diese Werke unsere Schaulust: Wir wollen das Geheimnis des Making-Ofs entschlüsseln, hinter die Illusion blicken.»
Auf diesem Streifzug begegnet man Ikonen der Kriegspropaganda wie dem fallenden Soldaten von Robert Capa, Andreas Gurskys «Rhein II», das 2011 bei einer Auktion für über drei Millionen Euro verkauft wurde, Henri Cartier-Bressons über eine Pfütze hüpfenden Mann oder die Concorde 4590, die beim Start in Flammen aufging – also Fotografien, die historische Ereignisse dokumentieren, und solchen, die dank ihrer künstlerischen Qualität zu Ikonen wurden.
Geschichte anders erzählt
Die Serie kann man als spitzbübische Interpretation der etablierten Geschichte der Fotografie und ihrer Manipulationen lesen. Zugleich bieten die Rekonstruktionen Raum zum Hinterfragen der Konventionen, die die Fotografie beherrschen.
Und sie vermitteln Geschichte auf eine besondere Weise, wie an der Eröffnung zu erleben war: Da standen Eltern mit ihren Kindern vor den Bildern und erklärten, wann in Vietnam Krieg war oder was es mit dieser Flagge, die US-Soldaten hissen, auf sich hat.
Manipulierbarkeit und Wahrheitsgehalt
Für Sascha Renner passt die Arbeit in die aktuelle Zeit. Er verweist auf das Schlagwort des «Postfaktischen»: «Fotografien waren schon immer vielschichtige Bedeutungsträger, offen für Interpretation und Manipulation. Heute werden wir jedoch vermehrt mit Informationen konfrontiert, die schwer überprüfbar sind. Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Fotografie stellt sich daher mit neuer Dringlichkeit. Das Werk von Jojakim Cortis und Adrian Sonderegger lässt uns dies auf eindrückliche Weise erfahren.»