Auf ihrer tausend Kilometer langen Reise entlang der ukrainischen Front hat Lotte Geeven mit einer Art Stethoskop die Herzschläge von Soldaten aufgenommen.
Die Nachricht von der reisenden Holländerin verbreitete sich rasend schnell von Mund zu Mund. Über Social Media, vor allem Telegram, meldeten sich viele, die ihren Herzschlag aufgezeichnet haben wollten, unter anderem auch für ihre Liebsten.
«Jetzt sind wir die Fabrik»
Da war der 19-jährige Ikonenmaler Nikolai, der seinen Herzschlag beim Abschied von seiner Mutter aufzeichnen lassen wollte. Die Künstlerin traf auch die Offizierin Iryna, die Leichenteile einsammelt, damit die Hinterbliebenen möglichst viel vom Körper ihres Sohnes, Vaters, ihrer Tochter oder Mutter beerdigen können.
Iryna kann kaum schlafen und wenn sie Schlaf findet, kann sie die Toten sogar im Traum riechen. Ein anderer Mann schrieb seinen Namen auf Arme und Beine, Füsse und Hände, damit er leichter identifiziert werden kann, falls er von einer Granate zerfetzt wird.
Ein früherer Stahlarbeiter nahm Lotte Geeven mit in ein riesiges, leeres und geheimes Gebäude. Er bestand darauf, dass Lotte Geeven ihre Begleiter zurückliess. Nur er und sie. Lotte Geeven beschlich ein unangenehmes Gefühl, als sie allein mit dem Unbekannten durch die verlassenen Räume und leeren Treppenhäuser hastete – wegen der Luftangriffe war Eile geboten.
Und dann sassen sie sich gegenüber, der massige Mann schob sein T-Shirt nach oben und Lotte lauschte dem Herzschlag über ihr «Stethoskop». Ein sehr intimer Moment für die Künstlerin. Früher habe er für eine Musikkomposition den Fabriklärm aufgenommen, erzählte der Stahlarbeiter, «jetzt sind wir selbst die Fabrik».
Wohin geht all der Schmerz?
Viele gaukelten Normalität vor, aber alle seien schwer traumatisiert, erzählt Lotte Geeven. Ein Soldat las ihr enthusiastisch ein Gedicht auf Ukrainisch vor – als sie es später übersetzte, war es tieftraurig und schwarz.
Ein junger Elitesoldat mit grün-grauen Augen, die so gerne über das Meer blicken, wie er Lotte Geeven erzählte, versucht sich Normalität vorzusingen. Iryna, eine Scharfschützin, ist zutiefst traumatisiert, weil sie den Tod täglich durch ihr Zielfernrohr sieht. Nur wenn sie von Menschen berührt wird, spürt sie Linderung.
Die Soldaten gäben am letzten Checkpoint vor der Front quasi ihre Identität auf, seien gezwungen zu tun und zu sehen, was sie nicht wollen. Sie könnten mit niemandem sprechen, weil zu Hause keiner versteht, was sie erlebt haben. Höchstens der Pfarrer an der Front, den Lotte Geeven getroffen hat, hilft als eine Art Psychiater – egal, ob die Soldaten an Gott glauben oder nicht.
«Nichts ist persönlicher als der Herzschlag, nichts geht mehr unter die Haut als der Herzschlag», sagt Lotte Geeven. Und nichts beweist überzeugender, dass man am Leben ist, als der eigene Herzschlag.