Wie weiter mit dem wohl bekanntesten Gefangenen des Landes? Brian, der junge Mann, der seit über 1000 Tagen in Isolationshaft sitzt, bewegt Medien, Justiz, Politik, Gesellschaft – und jetzt auch die Kunst. Als «Fall Carlos» nahm die Tragödie nach einem Dokfilm über das Sondersetting des damals 17-Jährigen vor acht Jahren ihren Anfang.
Brian lebt heute abgekoppelt von der Aussenwelt. In einem Interview in der «Rundschau» vor zwei Jahren verriet er seinen richtigen Namen – das war der Impuls für die Aktion #BigDreams.
Ein anfangs noch anonymes Kollektiv aus Künstlerinnen und Aktivisten hat diesen Sommer ein medienkritisches Kunstprojekt in fünf Teilen, sie nennen es «Akte», gestartet. Das Kollektiv will den «Mythos Carlos» beenden und aus ihm wieder Brian machen.
«Carlos» als Kunstfigur
«Eine Geschichte, die sich auf verschiedensten Ebenen – und gerade auch im medialen Raum – entscheidet, ist ein Paradebeispiel für ein Thema, mit dem sich ein Theater auseinandersetzen muss», sagt Julia Reichert. Sie ist Co-Leiterin des Theaters Neumarkt in Zürich, das mit dem Kollektiv #BigDreams zusammenarbeitet.
Barbara Preisig hingegen, Kunsthistorikerin und Kunstkritikerin an der Universität Zürich und der ZHdK, sagt: «Mich hat in der Diskussion um Carlos und später Brian schon immer beunruhigt, dass er sehr schnell zu einer Kunstfigur wurde; zu einer Projektionsfläche für alle möglichen Anliegen»
#BigDreams polarisiert – dazu später mehr. Doch was will die Kunstaktion überhaupt?
Finanzierung vom Kanton Zürich
Inzwischen ist klar, wer hinter der Aktion steckt: Sabina Aeschlimann und Daniel Riniker, Leitungsteam des Theaters Rämibühl, haben #BigDreams ins Leben gerufen. Das Projekt wurde von Stadt und Kanton Zürich mit 50'000 respektive 20'000 Franken unterstützt.
Das Kollektiv will eine andere Sicht auf den Fall erzwingen und Missstände sichtbar machen. Die Kritik richtet sich nicht nur an die Justiz, sondern vor allem auch an die Medien. Die Handlungen seien mit Brian und seinem Umfeld abgesprochen, versichert das Kollektiv.
Macht das Kollektiv das Gleiche wie die Medien?
Dürfen sich Kunstschaffende auf die Seite eines mehrfach verurteilten Straftäters stellen? Und machen sie letztlich nicht dasselbe wie die kritisierten Medien: einen tragischen Fall für die eigene Aufmerksamkeit ausnützen? Stilisieren sie Brian gar zum Opfer, wie ein Kritiker schrieb?
Die Kunstkritikerin Barbara Preisig findet: «Das Projekt reagiert nur darauf, was bisher schon gesagt wurde. Es kommt aus dieser Ebene der Medialisierung nicht mehr raus.»
Für Julia Reichert vom Theater Neumarkt lässt sich der Fall jedoch nicht mehr trennen von der medialen Berichterstattung. «Den Brian, der im Sondersetting verblieben wäre, gibt es ja heute nicht mehr. Wir können nur mit dem Brian sprechen, der in diese Mischung aus einem überforderten Justizapparat, einer erhitzten medialen Debatte und einer empörten Öffentlichkeit geraten ist.»
Die Tiefe und Sorgfalt, mit der das Kollektiv sich der Realität bedient habe, sei entscheidend gewesen, das Projekt zu unterstützen, so Reichert. «Brian ist Co-Autor und Teil des Kollektivs und trägt die Entscheidungen mit – so schwierig das auch ist.» Denn wenn es um Menschen-Schicksale gehe, sei besondere Vorsicht geboten.
Genügend recherchiert?
Barbara Preisig befasst sich regelmässig mit aktivistischer Kunst. In diesem Fall vermisst sie den eigenständigen künstlerischen Zugang zu den Ereignissen. «Die Sichtbarmachung ist zwar eine bekannte Strategie in aktivistischen Kreisen. Aber ich sehe nicht, wie das Anliegen über dieses Aufzeigen hinausgeht. Ich hätte mir mehr Investigatives, mehr Recherche gewünscht.»
Preisig kennt kein vergleichbares Projekt, das sich so dezidiert mit einer Person auseinandersetzt. Speziell die laufende Ausstellung im Helmhaus, die Teil von #BigDreams ist, hat die Kunsthistorikerin irritiert. «Ich hatte nach dem Besuch der Installation das Gefühl, dass mich jemand von etwas überzeugen will.» Dabei liege die Stärke der Kunst darin, Ambivalenz und Zweideutigkeiten aufzuzeigen.
Julia Reichert sagt dazu: «Das dezidierte Ziel ist schon, dass so etwas nicht noch einmal passiert.» Die Neumarkt-Co-Leiterin gibt zu bedenken, dass das Projekt erst in der Halbzeit stecke – gerade der vierte Akt werde eine vertiefte Auseinandersetzung bieten.
Und der fünfte Akt? Die Auflösung des Medientheaters ist noch genauso offen wie die Zukunft von Brian.