Michelle Aimée Oesch hat einen Knochenjob. Was ihr vor die Linse kommt, ist meist schon tot. Als wissenschaftliche Fotografin für das veterinärmedizinische Institut der Universität Zürich rückt sie im Namen der Forschung Skelette, Knorpel und Innereien ins richtige Licht, manchmal auch lebendige Tiere.
Lieber Seziertisch als Hochzeit
Zwischen Seziertisch, Schädelknochen und Kleintierklinik: Nicht unbedingt der Ort, an dem man eine junge Künstlerin erwarten würde.
Michelle Aimée Oesch war aber schon während ihres Studiums an der Zürcher Hochschule der Künste klar: «Ich will nicht nur am Wochenende fotografieren und an Werktagen in einer Bar jobben. Die üblichen Möglichkeiten, etwa Mode, Werbung, Babys oder Hochzeiten zu fotografieren, waren aber nicht meins.»
Schon als Kind faszinierten sie die Bilder im «National Geographic»-Magazin. Nach dem Studium googelte sie nach Fotografinnen in der Wissenschaft und schrieb ihre Vorgängerin im Tierspital an. Sie solle vorbeikommen, meinte diese. Später, als die Fotografin auswanderte, übernahm Oesch deren Stelle.
Mal Pferdehufe, mal Katzentatzen
Neben Michelle Aimée Oesch arbeiten noch rund ein Dutzend weitere Fotografen an der Universität Zürich. Doch ihre Zahl hat abgenommen. «Mit der digitalen Fotografie ist es günstiger, einfacher und schneller geworden, Bilder herzustellen. Ärzte und Professorinnen knipsen schneller mal selbst. Ein eigenes Fotolabor mit Laboranten gibt es heute nicht mehr.»
Trotzdem muss sie sich um Aufträge keine Sorgen machen. Wenn Forscherinnen ihre Studien dokumentieren wollen, angehende Pferdemediziner Übungsmaterial benötigen oder die Kleintierklinik neuen Wandschmuck braucht, wird sie gerufen.
Wie Fantasiegebilde
Dass ihr Auge nicht nur auf wissenschaftliche Präzision, sondern auch auf ästhetische Gestaltung geschult ist, merkt man Oeschs Bildern an. Meist zeigen sie anatomische Einzelteile eines Tieres, abgelichtet vor schwarzem oder weissem Hintergrund, gestochen scharf – bis ins Detail. Isoliert wirken sie eher wie geheimnisvolle Fantasiegebilde als Forschungsobjekte.
Natürlich müsse sie als wissenschaftliche Fotografin technisch und gestalterisch präzise arbeiten, erzählt Oesch. Ein wunderschönes Bild alleine bringe niemandem etwas. Aber: «Ein Bild, das nützlich ist, ist meist auch ästhetisch.»
Perfekt designte Natur
So könne auch eine blutige Leber schön sein. Vielleicht nicht, wenn sie auf einem Seziertisch zwischen Innereien und Gerätschaften liege, inszeniert und richtig ausgeleuchtet aber schon. «Ich bin bei meinen Bildern schon perfektionistisch», ergänzt Oesch lachend.
Ein bisschen Schönheit in die Wissenschaft zu holen, sei ein leichtes Spiel: «Das Prinzip ‹Form Follows Function› findet man nirgends so deutlich wie in der Anatomie», erklärt Oesch. «Was die Natur geschaffen hat, ist fast immer wunderschön und perfekt designt.»
Ihre Bilder bewegen sich oft zwischen der Präzision der Wissenschaft und den kreativen Konzepten der Kunst. Die Serie mit Pfoten von Katzen und Hunden etwa, von unten aufgenommen: Sie wirken wie wissenschaftliche Bilder, haben aber einen rein dekorativen Zweck, «um den Wartebereich in der Kleintierklink zu markieren und zu trennen».
Oder ein trichterförmiger Knochen, den Oesch mehrfach aus verschiedenen Perspektiven abgebildet hat: «Alle Beschaffenheiten sind genau zu erkennen. Je nach Winkel wirkt derselbe Knochen aber ganz anders.»
Diese Bilder wären wissenschaftlich brauchbar, sind aber privat entstanden. «Man erkennt ohne Vorwissen nicht, dass es derselbe Knochen ist, oder dass er von einer riesigen Giraffe stammt», erklärt Oesch.
So erzählt die Giraffenserie auch etwas darüber, wie wir Bilder betrachten. Als nützliches Anschauungsmaterial können sie uns Informationen vermitteln. Gleichzeitig können sie so überraschend sein, dass eine Welt hinter den Dingen durchschimmert.