Im Roman «Orlando: A Biography» erzählt Virginia Woolf von einem Mann, der als Frau Karriere macht. Im Fotomuseum Winterthur ist dieser Orlando nun auf einem riesigen Foto zu sehen, verkörpert durch die Schauspielerin Tilda Swinton, die die Winterthurer Ausstellung kuratiert hat.
Das Foto am Eingang zur Ausstellung stammt aus Sally Potters Film «Orlando». Swinton trägt darauf ein viktorianisches Kostüm: braune Samthosen, darunter weisse Strümpfe. Ist das ein Mann oder eine Frau, fragt man sich.
Swintons Spiel mit den Geschlechterrollen
Tilda Swinton stand schon immer für das Dazwischen: Sie stehe zwischen einer klar definierbaren Männlichkeit und Weiblichkeit, sagt Nadine Wietlisbach, Leiterin des Fotomuseum Winterthur.
Tilda Swinton und die Figur von Virginia Woolfs Roman «Orlando: A Biography» haben vieles gemeinsam. Orlando bewegt sich nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern reist auch zwischen den Jahrhunderten herum. Auch diesen Aspekt nimmt die Ausstellung auf.
Den Spielraum erkunden
«Es geht um die Idee, wie Zeit anders erlebt werden kann», sagt Wietlisbach. Wo Zeit im Spiel sei, gehe es immer auch um Endlichkeit: «Leben und Tod werden zelebriert und es geht darum, dass Geschlecht ein Konstrukt ist, das viel Spielraum zulässt.»
Wie dieser Spielraum aussieht und welche unterschiedlichen Ergebnisse beim Spielen mit Geschlechterbildern entstehen, zeigen die Arbeiten von elf Fotografinnen und Kunstschaffenden.
Die Art und Weise, wie die Fotografinnen mit Zeit, Geschlecht und Identität umgehen, könnte unterschiedlicher nicht sein: Mal geheimnisvoll bis rätselhaft, mal springen die Fotografien förmlich ins Auge.
Der Diskurs um «genderfluid» oder «nonbinär»
Geschlecht und Identität sind hochemotionale Themen. Sie sorgen gesellschaftspolitisch für Diskussionen und kommen mit neuen Begriffen wie «genderfluid» oder «nonbinär» daher. Auch diese Aspekte thematisiert die Ausstellung im Fotomuseum.
Dass man kann mit Geschlecht und Identität spielen kann, zeigt die Modeindustrie schon lange: Mode dekoriert und inszeniert. Körper werden in üppige Kostüme gesteckt oder entblösst. Das kann schön sein, verführerisch oder sexy. Es kann aber auch abstossen oder irritieren – auch damit spielt die Ausstellung.
Mit Schnauz und Schmuck
Ein überdimensioniertes Porträt der gleichen Person begleitet durch «Orlando». Mal scheint sie männlich, mal weiblich zu sein. Liegt es am Schnauzer oder an den Ohrringen? An den Lippen oder an den Augenbrauen? Eines wird schnell klar: Der Mensch auf diesen Porträts schaut dem Publikum immer direkt in die Augen. Es fühlt sich an wie eine Begegnung.
Das Spiel mit Geschlecht und Identität hat viele Gesichter. Diese macht die Ausstellung sichtbar. Gleichzeitig schlägt sie den Bogen zu Virginia Wolfs Roman und zeigt, wie die literarische Vorlage auch im Jahr 2022 aktueller denn je ist.