«Annie» steht auf dem Zettel, dazu eine Telefonnummer. Es ist 1973, Wim Wenders sitzt alleine im New Yorker Szeneclub CBGB, sein aktuelles Filmprojekt ein Scherbenhaufen, als ihm eine unbekannte junge Frau einen Zettel zuschiebt.
Wer ist das? Wenders weiss es nicht. Aber er wird noch staunen – wie so oft in diesen Jahren.
Der unverstellte Blick
Geschichten wie diese erzählt uns Wim Wenders in seinem neuen Buch «Sofort Bilder». Es ist eine Art illustrierte Autobiografie: Ein Trip durch die Entwicklungsjahre eines jungen Regisseurs aus Düsseldorf, begleitet von rund 400 seiner Polaroid-Fotos.
«Die Siebzigerjahre waren eine Epoche in meinem Leben, in der ich sehr viel zum ersten Mal gemacht habe», schreibt Wenders rückblickend. Entsprechend unverstellt, ja unbekümmert ist sein fotografischer Blick.
Als Betrachter wird man unmittelbar Teil des Geschehens. Wacht zum ersten Mal mit Wim Wenders in New York auf. Blickt mit ihm auf Amerika. Das Fernsehen! McDonalds! Und da, Sunset Boulevard!
Schnappschüsse – und mehr
Alles hält der junge Wenders fotografisch fest: Strassenszenen, Hochhäuser, Ketchup-Flaschen, Blicke aus dem Flugzeug, sich selbst.
Es ist ein bisschen so, als würde man die Facebook-Timeline eines Bekannten durchscrollen. Ein Haufen eilig fabrizierter Schnappschüsse – wäre da nicht ab und an ein kleines Glanzstück, an dem wir hängen bleiben.
Notizen eines Künstlers
Nebst spontanen Aufnahmen hält Wenders immer wieder mögliche Drehorte fest: Strände an Amerikas Ostküste zum Beispiel (für «Der Scharlachrote Buchstabe», 1973). Oder, zurück in Deutschland, dutzende heruntergekommene Kinos an der deutsch-tschechischen Grenze (für «Im Lauf der Zeit», 1976).
«Polaroids zu machen war Teil eines Vorgangs des ‹Besitzergreifens›, wie die Skizzen eines Malers oder die Notizen eines Schriftstellers», schreibt er.
«Sofort Bilder» wirkt denn auch wie ein Notizbuch eines Künstlers: faszinierend, aber manchmal abstrakt. Ein Glück, wenn der Künstler nicht mit Anekdoten dazu geizt.
Heulattacke auf dem Pannenstreifen
Etwa jene, als ihm Regisseur Sam Fuller beim ausgedehnten «jüdischen Frühstück» die Leviten liest. Oder Dennis Hopper, den er – direkt nach dem Dreh zu «Apocalypse Now» – völlig zugedröhnt am Hamburger Flughafen abholen muss. Und wie er selbst auf einem Pannenstreifen Rotz und Wasser heult, als er im Radio erfährt: John Lennon ist tot.
Wie seine Bilder drängen sich auch Wenders Geschichten nicht auf. Er streut sie beiläufig ein – mit gerade so viel Pathos, wie es gut erzählte Geschichten eben brauchen. «Sofort Bilder» ist im besten Sinn unaufgeregt.
Nicht ganz so unaufgeregt ist die zweite Begegnung mit Annie, der Unbekannten aus dem New Yorker Club. Mehr durch Zufall besucht er sie ein paar Wochen später in San Francisco. Sie ist Fotografin. Vielbeschäftigt und unter Strom. Ihr voller Name? Annie Leibovitz, dereinst eine der berühmtesten Fotografinnen unserer Zeit.