Nichts ist geblieben von der Vision, der Armand Schulthess sein Leben widmete. Nachdem der Einsiedler und Aussteiger 1972 gestorben war, verbrannten die Erben fast alles. Nur einzelne seiner Plättchen, Schilder und selbstgemachten Bücher konnten gerettet werden.
Während mehr als 20 Jahren hatte Schulthess ein steiles Waldgrundstück im Tessiner Onsernonetal in eine umfassende Enzyklopädie verwandelt. Von Ästen und Stämmen baumelten Plättchen, Schilder, Zettel, die Wissen aus allen Themenbereichen zusammenfassten: von Geologie über Astrologie und Biologie bis hin zu Astrophysik, Musik und Literatur.
Armand Schulthess wurde 1901 in Neuchâtel geboren und wuchs bei Adoptiveltern auf. Er machte sich selbstständig, führte mehrere Damenkonfektionsgeschäfte und litt unter der Weltwirtschaftskrise. In den 1940er-Jahren kam er in der Bundesverwaltung unter.
Ausstieg von langer Hand geplant
Den Plan, auszusteigen, musste er über längere Zeit gehegt haben. Stück um Stück kaufte er Land im Onsernonetal. 1951 verliess er sein Beamtenleben und baute seinen Wald auf. Die spärlichen Eckdaten seines Lebens sammelte die Künstlerin Ingeborg Lüscher, die Ende der 1960er-Jahre Kontakt zu Schulthess fand.
Schulthess’ Enzyklopädie faszinierte Lüscher, auch wenn sie dabei zunächst nicht an Kunst dachte. Sie dokumentierte den Wald wie auch ihre Gespräche mit dem Einsiedler und gab 1972 das Buch «Dokumentation über A.S.» heraus. Dieses Jahr wurde das Buch neu herausgegeben.
Mit Lüschers Buch begann Schulthess’ Karriere als Künstler. Der Aussteiger, der am Rand der Gesellschaft ein Ordnungssystem für eine Welt errichtete, die in lauter heterogene Teile zerfällt, inspirierte die Sinnsucherinnen und Sinnsucher der 68er-Generation.
Ingeborg Lüscher zeigte ihre Installation über Armand Schulthess auf der documenta 1972 und wurde dadurch als Künstlerin breiter bekannt. Im Kurator der documenta, Harald Szeemann, fand Lüscher ausserdem ihren späteren Mann. «Mein Leben wäre ohne Schulthess völlig anders verlaufen», sagt sie heute.
Das Interesse an alternativen Lebensentwürfen und Welterklärungen beförderte die Entdeckung von Künstlerinnen und Künstlern, die ausserhalb des Kunstsystems produzieren. Armand Schulthess ist neben Adolf Wölfli einer der bekanntesten Vertreter in der Schweiz.
Projektionsfläche für Sehnsüchte
Markus Landert vom Kunstmuseum Thurgau hat sich auf Aussenseiter-Kunst spezialisiert. Künstlerinnen und Künstler wie Schulthess seien perfekte Projektionsflächen für eigene Sehnsüchte, sagt er. Auch darum faszinierten ihre Werke.
Es ist unbekannt, ob sich Armand Schulthess selbst als Künstler sah. Auch was er darüber dachte, dass sein Wald als Kunstwerk gesehen wird, bleibt sein Geheimnis. Kurze Zeit nach seiner Entdeckung durch die Kunstwelt fand man den Aussteiger tot in der Natur auf.
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