Wenn man von Selbstporträts auf den Charakter einer Künstlerin schliessen kann, dann sah sich Gabriele Münter als eine vom Leben irritierte Existenz. Ihre Gemälde zeigen sie oft als sensiblen Menschen – eine Frau, die mit strahlend blauen Augen gedankenverloren in die Ferne starrt.
Das entspricht auch dem Bild, das Wassily Kandinsky von ihr hatte. Der Künstler war seit 1902 heimlich mit Münter liiert. Er sah sie als ein als naives, von Ängsten und Trieben beherrschtes Wesen, im Alltag wie in der Kunst.
Ein Irrtum. Denn Gabriele Münter hat ihre Bildmotive oft sehr bewusst entwickelt. In den 70 Jahren ihrer künstlerischen Tätigkeit hat sie ausserdem verschiedenste Stile ausprobiert. Zudem war sie auch als Fotografin tätig. Das illustriert die erste Schweizer Retrospektive, die im Zentrum Paul Klee zu sehen ist.
Ausgedehnte Reisetätigkeit
In der Zeit um die Jahrhundertwende hat Münter auf Reisen durch Amerika, Tunesien und Frankreich zahlreiche Fotos aufgenommen. Diese Bilder sind erst kürzlich aus der Versenkung aufgetaucht. In Bern werden sie jetzt Seite an Seite mit Skizzen und Gemälden gezeigt, die parallel dazu entstanden sind.
Vermitteln diese Fotografien ein differenzierteres Bild der vermeintlich nur naturbegabten Künstlerin? Fabienne Eggelhöfer, Kuratorin der Berner Ausstellung, ist überzeugt, dass Münter die Fotografie bewusst benutzt, um «Motive zu finden, die sie später auch in anderen Medien umsetzt».
Sie will mithilfe von Münters Fotografien illustrieren, dass «die Künstlerin auch konzeptuell an ihre Themen herangeht.»
Das Licht von Murnau
Im Herbst 1908 unternahmen Münter und Kandinsky gemeinsam mit Marianne von Werefkin und Alexej Jawlensky einen Ausflug nach Murnau am Staffelsee. Die zwei Künstlerpaare waren begeistert vom Licht und den Farben der Landschaft, die sie in zahllosen Bildern einzufangen suchten.
1909 kaufte Münter ein Haus in Murnau. In den folgenden Jahren pendelte sie gemeinsam mit Kandinsky zwischen der ländlichen Idylle und der Grossstadt München hin und her.
In dieser Zeit entstanden all die Bilder, mit denen sich Münter in die Kunstgeschichte der Moderne einschrieb. Das berühmte Portrait von Werefkin etwa, das die Freundin in einem geometrisch geordneten Gefüge aus Flächen und Farben zeigt. Oder die «Dorfstrasse im Winter» mit ihren Fassaden in Grün, Rosa, Blau oder Weiss, die durch schwarze Konturen miteinander verbunden sind.
Einblick in die ausgestellten Werke
Auch bei der Gründung des Almanachs «Der Blaue Reiter» im Jahr 1912 war Münter dabei. Ausserdem schuf sie Zeichnungen, druckgrafische Werke und zauberhafte Textilien, von denen in Bern ebenfalls einige zu sehen sind.
Trennung von Kandinsky
Dann brach der Erste Weltkrieg aus. Als Russe musste Kandinsky das Land verlassen, Münter blieb zurück. Es war das Ende ihrer Beziehung. In den folgenden Jahren unternahm die Künstlerin einige Reisen, vor allem nach Skandinavien. Dann machte sie aber mehr und mehr Murnau zu ihrem Lebensmittelpunkt.
In der Berner Ausstellung fällt auf, dass nur wenige der insgesamt 180 Exponate aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg stammen. Dabei lebte Gabriele Münter noch fast ein halbes Jahrhundert, bis sie 1962 im Alter von 85 Jahren starb.
«Nie längere Zeit an etwas drangeblieben»
Hat sie nach der Trennung von Kandinsky nichts mehr geschaffen, was sich auszustellen lohnte, hat sie in keinen eigenen Stil gefunden? Fabienne Eggelhöfer meint, Münter habe sich zwar durchaus weiterentwickelt, sei aber wohl «nie längere Zeit an etwas drangeblieben».
Die Berner Ausstellung erzählt zwar von einer Künstlerin, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg einen fulminanten Start hinlegte und mehr war als nur ein naives Talent. Zugleich zeigt sie einen Menschen, der durch den Krieg jäh aus seiner Bahn geworfen wurde, und dem es weder künstlerisch noch gesellschaftlich gelang, den Faden wieder aufzunehmen.