Als Nesa Gschwend nach dem Tod ihrer Eltern das Haus räumen musste, in dem ihre Familie seit Generationen lebte, begriff sie: Die Bettwäsche, die sie in den Schränken fand, war Zeugin ihrer Familiengeschichte.
«Meine Eltern sind darin geboren. Meine Grosseltern sind darin gestorben. Wir sind darin entstanden», sagt die 60-jährige Rheintalerin. «Alles – Freude, Liebe Trauer und Wut – ist in diesen Stoffen gespeichert.»
Mitnehmen ohne zu sammeln
Einige dieser bestickten Leintücher hat sie mitgenommen und auch Tischdecken und Kleider. Nicht, um diese Erinnerungen an ihre Kindheit in Kisten zu lagern.
«Ich bin keine Sammlerin», sagt sie. «Mich interessieren Materialien in dem Sinne, dass ich sie in meiner künstlerischen Arbeit transformieren kann.» Nicht ums Erhalten gehe es ihr, sondern um die Frage, was daraus Neues entstehen könne.
Der rote Faden
Denn das macht ihre künstlerische Arbeit aus: Nesa Gschwend fertigt aus Bestehendem neue Objekte.
Zum Beispiel hing in einem Ausstellungsraum ein Gebilde aus Leintuchstreifen, Garn und Wachs, ähnlich einem verhedderten Netz. Auffallend dabei ist die Farbe Rot: «Wenn ich mit solch emotionalem Material arbeite, versuche ich, allem eine neue Bedeutung zu geben und werfe nichts weg», sagt die Künstlerin.
«Dieses Objekt ist wie ein Kreislauf: Der rote Faden besteht aus Teilen der Nachtvorhänge meines Kinderzimmers.» Der rote Faden zieht sich auch durch die teppichartigen Gebilde, die Nesa Gschwend aus dem Material genäht und bestickt hat. «Relations» heisst diese Werkgruppe.
Begeisterung für Experimente
Nesa Gschwend ist gelernte Schneiderin. Erst führte sie ihr Interesse zur Bühne – in den 1980er-Jahren begeisterten sie experimentelles Theater und Performances.
Ihrer Kunst ist diese Vergangenheit anzumerken – zum Beispiel der Werkgruppe «Porträts». Für diese grossformatigen Bilder näht, klebt und stickt Nesa Gschwend verschiedenste Materialien auf eine Unterlage, bis Gesichter erkennbar sind: «Die Gesichter entstehen aus dem Tun. Während des Entstehungsprozesses verändere ich sie».
Für die Porträtserie benutzt sie unter anderem echte Haare – ihre eigenen und geschenkte. «In Haaren sind viele Information über uns gespeichert», erklärt die Künstlerin.
An Haaren interessiert sie zudem auch die ambivalente kulturelle Prägung. Einerseits hat man im 18. und 19. Jahrhundert aus Haaren von geliebten Menschen Schmuckstücke gefertigt, um sie nahe bei sich zu tragen. Andererseits verbinden wir mit Haaren das missbräuchliche Haarescheren während es Nationalsozialismus.
Aufräumen statt teilnehmen
Bei den Objekten ihrer dritten Werkgruppe «Living Fabrics» führen die Fäden von Gschwends künstlerischem Schaffen zusammen. Es ist ein partizipatives Projekt, in dem Menschen verschiedener Länder ihre abgelegten Kleider zusammentragen und daraus Neues gestalten. «Ich wollte damit meine Arbeit aus dem Persönlichen heraus in die Gesellschaft tragen», sagt Nesa Gschwend.
Solche «Living Fabrics» hat sie unter anderem in Indien und Georgien gemacht. Und in der Schweiz: Im Binntal haben ganze Schulklassen mitgewirkt. Jetzt kann sie wegen der Corona-Pandemie nicht partizipativ arbeiten.
Nun ist sie damit beschäftigt, ihr Atelier aufzuräumen. Künstlerischen Stillstand bedeutet das für sie kaum. Denn wer ihre Arbeit kennt, weiss: Durch die Beschäftigung mit altem Material entstehen bei ihr neue Werke.