Die Ausstellung wurde schon vor ihrer Eröffnung als Sensation gefeiert. Ai Weiwei ist nicht nur Künstler, sondern auch Dissident. Er wäre sicher weniger berühmt, wenn er in seiner Heimat nicht derart rabiat verfolgt werden würde.
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Für die Ausstellung ist das nicht unbedingt von Vorteil. Der Name Ai Weiwei generiert zwar ein ungeheures Medieninteresse, aber ob die Kunst den Erwartungen, die dadurch entstehen, auch gerecht werden kann, steht auf einem anderen Blatt.
Ein Kunstwerk par excellence
Sie kann – das spürt man sofort, wenn man die Ausstellung betritt. Man steht im Lichthof des Martin-Gropius-Baus – einer grossen, von einem Säulengang umgebenen, rechteckigen Fläche. Dort hat Ai Weiwei 6000 alte Holzschemel aufstellen lassen – geometrisch aufgereiht, wie eine Tonkrieger-Armee. Diese Hocker sind Alltagsgegenstände, die in China über Jahrhunderte in dieser Form hergestellt wurden, die heute aber niemand mehr zu brauchen scheint. Viele stammen aus Dörfern, deren Bewohner in die Städte gezogen sind.
Sie haben also nicht nur eine individuelle Geschichte, die sich an Kratzern und Farbgestaltung ablesen lässt, sondern stehen als Symbol auch für den gesellschaftlichen Wandel in China, für die Landflucht und den Übergang von der handwerklichen zur industriellen Produktion. Die Installation bezaubert nicht nur durch ihre Schönheit, sondern regt auch zu Interpretationen an – politischen, ästhetischen und historischen – sie ist ein Kunstwerk par excellence.
Es geht um die Wahrheit
«Evidence» lautet der Titel der Ausstellung – auf Deutsch «Beweismittel». Ai Weiwei will Zeugnis ablegen für die Wahrheit. Und das ist ein roter Faden, der sich durch sein ganzes Werk zieht. Das, was er in China als Bürger nicht sagen kann, sagt er durch seine Kunst. Manchmal tut er das sehr direkt, wenn er zum Beispiel die Überwachungskameras, die vor seinem Haus in Peking angebracht sind, als Marmorskulpturen nachbildet, manchmal aber auch sehr verschlüsselt, wenn er zum Beispiel 2000 Jahre alte Vasen mit Autolack überziehen lässt.
Wer antike Gegenstände liebt, zuckt da natürlich zusammen – aber das ist beabsichtigt: Ai Weiwei will zeigen, wie das Neue das Alte verdrängt, überformt, auch zerstört. Die Vasen schimmern silbern, anthrazit oder metallic grün – in den Farben der Luxusautos von Mercedes oder BMW, die in China Statussymbole sind. Unter der Lackschicht ist die alte Substanz der Vasen aber erhalten geblieben, auch darin kann man eine Beschreibung der chinesischen Gesellschaft sehen.
Kritik an den Verhältnissen und dennoch keine anti chinesische Propagandaschau
Zu den erschütterndsten Werken, die in der Ausstellung gezeigt werden, gehört eine Nachbildung der Gefängniszelle, in der Ai Weiwei 81 Tage ohne Anklage inhaftiert war – in gleissendem Neonlicht, beaufsichtigt von zwei Wärtern, die permanent neben ihm standen. Schon der Gedanke ist unangenehm. Die Enge des Raumes, in den nicht mehr als fünf Besucher gleichzeitig eingelassen werden, tut ein Übriges.
Man kann nur staunen, dass die chinesischen Behörden, die Ausfuhr dieser Kunstwerke gestattet haben. Ai Weiwei ist durch die Repressalien, die er bisher erdulden musste, nicht eingeschüchtert, sondern eher aufgestachelt worden. Er beschreibt die Missstände im Reich der Mitte nicht nur – sondern klagt sie an. Und trotzdem ist die Ausstellung keine anti chinesische Propagandaschau. Man erfährt viel über Kunstgeschichte und chinesisches Handwerk. Die Art, wie Ai Weiwei mit verschiedenen Materialien und gefundenen Objekten arbeitet, ist meisterhaft. Er ist ein vielseitiger Künstler, der den Mut zu politischen Botschaften hat.