Das Licht des Himmels, Wolken und Stürme und immer wieder das aufgewühlte Meer: die Landschaftsbilder des Engländers William Turner (1775–1851) suggerieren ein Universum im Aufruhr. Auf der Leinwand des Malers entladen sich die Visionen des Künstlers in einer gewaltigen Explosion der Farben.
Die National Gallery zeigt Malkasten und Palette des Romantikers. Beides fand man nach Turners Tod in dessen Atelier, abgenutzt und vertrocknet. Das Utensil des Malers belegt: trotz der imposanten Bandbreite der verwendeten Farbtöne arbeitete Turner mit – aus heutiger Sicht – relativ bescheidenen Mitteln.
Eine ganze Industrie für die Farbe
Neben Glasfläschchen mit Azurit und Kobaltblau in Pulverform enthält Turners Farbkasten das von ihm besonders geschätzte Pigment Chromgelb in sämtlichen Variationen. Mit Chrom wurde vor 150 Jahren sehr viel experimentiert.
«Die europäische Malerei des 19. Jahrhunderts», sagt Ashok Roy, Sammlungsdirektor der National Gallery und Kurator der Ausstellung, «gipfelte in einem Big Bang des Bunten. Zahlreiche Rohstoffe – metallische Elemente, Mineralien und Pflanzen – wurden neu entdeckt oder in neuen Verbindungen kombiniert. Anderes wurde erstmals synthetisch hergestellt. Und es kamen immer mehr Farben auf Kadmiumbasis hinzu.»
Auf die lange Tradition der Farbenproduktion in Europa verweist Shahidha Bari, Kulturhistorikerin an der Universität London: «Seit dem frühen Mittelalter waren ganze Industriezweige auf die Herstellung und Weiterverarbeitung von Farben und anderen Kunstmaterialien spezialisiert. Zu Beginn waren es Alchemisten und Apotheker, Schmiede und Ordensbrüder.»
Blaues von «jenseits des Meeres»
Die exotischsten Farbquellen stammten aus den entlegensten Weltgegenden. Aus Mexiko etwa kamen Pigmente, die auf fein zermahlenen Käfern basierten, und aus der afghanischen Hindukuschregion bezog man den Lapislazuli.
Besonders während der Renaissance blühte das lukrative Geschäft mit dem wertvollen, vor allem über Genua und Venedig nach Europa importierten Mineral. Welche Madonna auf Heiligenbildern des 16. Jahrhunderts trug kein Gewand in dem Blauton, dessen Name seine Herkunft von «jenseits des Meeres» signalisierte: Ultramarin.
Pigmente, die die Bilder leuchten liessen
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Flankiert von Gemälden aus dem Bestand der National Gallery führt die Ausstellung in sieben farbthematisch arrangierten Räumen von den Anfängen der Farbenlehre durch das Arsenal der Pigmente, die die Bilder leuchten liessen: von Blau und Purpur über Gelb, Grün und Rot bis zur kunsthandwerklichen Verwendung von Gold und Silber.
Vorbei an Werken der italienischen Renaissance und niederländischer alter Meister lässt sich hier die Entwicklung von Farberzeugnissen nachverfolgen, die schliesslich dem Impressionismus zum Durchbruch verhalfen. «Cézanne, Monet, Pissaro: ohne die Farben aus der Tube hätte es sie alle nicht gegeben», sagte Renoir.
«Arie der Rottöne»
Ein Glanzstück der Schau ist Edgar Degas’ Bild «La Coiffure» (1896). Es zeigt zwei Frauen beim Haarekämmen und, so Kurator Ashok Roy, singen seine Farben wie eine Koloratur: «Degas griff hier zu fast allen Rottönen: Zinnober und Bleirot, erdigem venezianischem und indischem Rot und dem aus Pflanzen extrahierten Karmin. Die Vielfalt der Rotvarianten verleiht der intimen häuslichen Szene ihre emotionale Intensität.»
Der Dichter John Keats, ein Zeitgenosse Turners, zeigte sich desillusioniert von den Farbstudien seines Landsmanns Isaac Newton. Das Prisma habe den «Regenbogen entzaubert», sagte Keats. Der Malerei jedoch eröffnete die Wissenschaft von den Farben ein unendliches Spektrum von Möglichkeiten, die Welt ganz neu zu gestalten.