Bevor Ernst Scheidegger in Zürich die Fotoklasse besucht, absolviert er die Lehre zum Schaufensterdekorateur. Seine Leidenschaft aber ist schon in seiner Jugend die Fotografie. An der Kunstgewerbeschule lernt er die perfekte Abbildung von Objekten.
Aber der junge Scheidegger interessiert sich aber bald mehr für die Menschen und deren Geschichten als für die Objekt-Fotografie. Schon mit 17 Jahren lernt er den damals noch unbekannten Alberto Giacometti kennen. Scheidegger ist während der Rekruten-Schule im Bergell stationiert, die Heimat des Bündner Bildhauers.
1943 fotografiert der junge Bilderjäger den Künstler ein erstes Mal. Es entsteht eine lebenslange Freundschaft und eine dauerhafte Zusammenarbeit. Scheidegger wird zum Vertrauten des Plastikers und Malers. Er fotografiert und filmt ihn in seinen Ateliers in Maloja und Paris.
Der Zufall macht es möglich
Scheidegger besucht zusammen mit Alberto Giacometti ein Pariser Café. Die beiden sprechen über aktuelle Bilder, die der Fotograf vom Künstler gemacht hat. Am Nebentisch sitzt der spanische Maler und Bildhauer Joan Miró.
Dieser ist so begeistert von Scheideggers Arbeiten, dass Miro den Schweizer Fotografen direkt zu sich nach Spanien einlädt. Auch hier entsteht eine langjährige Zusammenarbeit und Freundschaft. Ernst Scheidegger: «Mein Leben besteht aus Zufällen. Aber man muss sie auch nutzen.»
Neben Joan Miro porträtiert Ernst Scheidegger auch Künstler wie Marc Chagall, Hans Arp, Hans Erni, Salvador Dali, Max Bill oder Le Corbusier. Auch Pablo Picasso will vom helvetischen Bildmagier fotografiert werden. Dazu kommt es jedoch nicht: Scheidegger gefällt die brutale Art von Picasso gegenüber dessen Hund nicht.
Bildreporter auf Weltreise
Sein Freund und Berufskollege René Burri holt Scheidegger 1952 zur Agentur Magnum in Paris. Als Bildreporter reist Ernst Scheidegger um die ganze Welt. Afghanistan, Ägypten, Burma, Marokko, Indien, Japan sind nur einige seiner Stationen.
Von 1960 bis 1988 arbeitet Ernst Scheidegger für die «Neue Zürcher Zeitung». Er verantwortet die Wochenend-Beilage, liefert unzählige Foto-Reportagen, bestimmt die Bildauswahl und prägt die Beilage auch typografisch entscheidend mit.
Obwohl ihm eine Vollzeitstelle bei der NZZ angeboten wird, bleibt Scheidegger lieber unabhängig. Er braucht die restliche Zeit für seinen Verlag und seine Galerie.
Passfoto wird zur Ikone
Das erfolgreichste Bild seiner Karriere ist ein einfaches Passfoto. Weil der Künstler Alberto Giacometti dringend ein solches Bild von sich braucht, schiesst Ernst Scheidegger ein passendes Foto. Dieses ist zu einer Ikone geworden und ist heute das Sujet der 100-Franken-Note.
Ernst Scheidegger kann auf ein volles Leben und auf ein umfangreiches fotografisches und künstlerisches Œuvre schauen. Sein Credo: «Es kommt auf die Aussage des Ganzen an.» Das stimmt für jedes seiner Bild, aber eben auch für sein Leben.