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Kunst Das Rätsel der Schönheit

Schönheitsoperationen. Schlankheitswahn. Photoshop-Bilder auf Facebook. Was fasziniert uns so sehr am Schönen? Gibt es Dinge, die alle Menschen schön finden? Wo steht die Schönheitsforschung heute? Antworten aus der Philosophie, Biologie und Neurowissenschaft.

Wer über Schönheit nachdenkt, sollte zum Philosophen Immanuel Kant zurück. Nach Kant ist Schönheit keine objektive Eigenschaft der Dinge, sondern eine Art, wie uns gewisse Dinge erscheinen. Aber nicht alles, was uns gefällt, ist schön. Das «Wohlgefallen» müsse «interesselos» sein, meint Kant: Wenn uns eine Rose gefällt, weil sie das Geschenk einer geliebten Person ist, oder wir das Äussere einer Person ansprechend finden, weil wir sie begehren, dann ist ein Interesse im Spiel. Schönheit sei eine «Zweckmässigkeit ohne Zweck»: Das Schöne erfülle keinen äusseren Zweck, sondern bilde ein in sich stimmiges, harmonisches Ganzes, dem man nichts hinzufügen oder wegnehmen kann. Das wusste bereits der italienische Architekt Leon Battista Alberti.

Die «Venus vor dem Spiegel» des spanischen Malers Diego Velázquez.
Legende: Inbegriff von Schönheit: Die «Venus vor dem Spiegel» des spanischen Malers Diego Velázquez. The National Gallery, London.

Über Geschmack lässt sich streiten

Wenn wir etwas als «schön» bezeichnen, dann erheben wir damit nach Kant einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Wir tun so, als sei Schönheit eine objektive Eigenschaft an den Dingen und streiten uns über ästhetische Fragen. Aber lassen sich ästhetische Urteile überhaupt begründen? Kant und viele Philosophen nach ihm meinen, ja. Jedoch nicht durch Schlussfolgerungen aus ästhetischen Prinzipien, sondern durch konkrete Hinweise und Vergleiche: «Siehst du nicht, dass das Bild zu tief hängt? Es wirkt, als würde es nach unten fallen». Durch solche Vergleiche zeigen wir dem Gesprächspartner eine neue Perspektive und lassen ihn das Objekt so sehen, wie wir selbst es sehen. In der Regel wird er unser Urteil dann nachvollziehen können. Aber nicht immer. Die Geschmäcker sind bekanntlich verschieden. Oder gibt es etwa Dinge, die allen Menschen gefallen?

Am Hals abgetrennter Frauenkopf mit Schlangen auf dem Haar
Legende: Kopf der Medusa, der Inbegriff der Hässlichkeit. Gemalt von Peter Paul Rubens. Wikimedia

Zum Überleben schön

So gut wie allen Menschen gefallen jugendliche und symmetrische Körper, Kleinkinder (Kindchenschema), savannenähnliche Landschaften, breite Schultern und ausgeprägte Unterkiefer bei Männern und ein Taille-Hüfte-Verhältnis bei Frauen, das kleiner als 0,7 ist. Diese ästhetischen Vorlieben seien angeboren und ein Produkt der Evolution, meinen die Evolutionspsychologen. Nehmen wir die Savannenlandschaften: Unsere Vorfahren überlebten, so die These der Evolutionspsychologie, weil sie Landschaften schön fanden, die sich zum Überleben eigneten, die also Schutz, Wasser, Nahrung und Jagdmöglichkeiten boten – so wie Savannen. Diese Vorliebe haben wir geerbt. Und warum finden wir symmetrische und junge Menschen attraktiv? Asymmetrie ist, biologisch gesehen, ein Indikator für Krankheiten und Defizite in der biologischen Fitness. Und das Alter verhindert Zeugung. Wer also alte oder asymmetrische Körper schön findet, dessen Gene werden leichter aussterben: Entweder er hat keine Nachkommen oder sie sind weniger überlebenstauglich.

Gesetze der Schönheit

Seit jeher versuchen die Menschen, den Gesetzen der Schönheit auf die Spur zu kommen. Die Symmetrie und der goldene Schnitt waren lange Zeit die Topfavoriten. Es kam die Abwechslung, die Komplexität und die Intensität dazu, später die Gestaltgesetze und vor kurzem die «Zehn Gebote der Schönheit» des indischen Neurologen Vilayanur Ramachandran: Er geht den Gesetzen unseres Geschmacks wissenschaftlich nach und behauptet, es gäbe zehn Faktoren, auf denen unsere ästhetische Vorliebe basiere: Übertreibung (bei intensiven Farben oder Karikaturen), Gruppierung von Objekten, Kontraste, Isolation, Aha-Effekt (Rätsellösen beim Bilderdeuten), Symmetrie, Perspektive, Wiederholung, Balance und Metapher. Neben diesem Dekalog gibt es natürlich noch individuelle Vorlieben: Manche mögen Ornamente, andere mögen es lieber schlicht.

Moden des Geschmacks

Buchhinweis:

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Konrad Paul Liessmann: Schönheit. UTB, 2009.

Ulrich Renz:

Schönheit – eine Wissenschaft für sich, Berlin, 2006.

Die Soziologie betont gegenüber diesen Theorien zu Recht, dass beim Geschmack die Unterschiede zwischen den Menschen weit grösser sind als die Gemeinsamkeiten. Geschmack sei ein Produkt von Erziehung und Gewohnheit. Man erinnere sich nur an die Frisuren aus den 80er-Jahren. Zudem habe der Geschmack, so der Soziologe Pierre Bourdieu, immer auch eine soziale Funktion: der Klassikliebhaber gesellt sich zu einer bestimmten Gruppe und grenzt sich gegen andere ab.

Verkörperte Lebensideale

Einige Philosophen und Designtheoretiker versuchen, das Rätsel der Schönheit anders zu lösen. Sie gehen davon aus, dass sich in unseren ästhetischen Vorlieben unsere persönlichen Lebensideale spiegeln. Ob es sich um einen Roman, um ein Bild, ein Musikstück, einen Film, ein Gebäude, ein Auto oder eine Lederjacke handelt – immer gilt: Was uns gefällt, ist wie ein Mensch, den wir mögen. Der Roman ist vielseitig, das Bild wirkt leidenschaftlich, die Musik klingt melancholisch, der Film ist tiefsinnig, das Gebäude wirkt bescheiden, das Auto macht einen ernsten Eindruck und die Lederjacke verkörpert Stärke.

Ein Gegenstand gefällt uns nach dieser Theorie dann, wenn er Charaktereigenschaften und Gemütszustände verkörpert, die wir an Menschen schätzen. Der Philosoph Alain de Botton ist ein Vertreter dieser Auffassung, aber auch Platon und Hegel hätten ihm wohl zugestimmt. Das ästhetisch Ansprechende sei ein Sinnbild eines verlockenden Lebensstils – die Verdichtung eines Lebens, wie wir es uns wünschen. Oder wie der französische Schriftsteller Stendhal meinte: «Schönheit ist ein Versprechen von Glück».

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