Vielleicht ist er etwas verrückt, Maurice de Martin, der transdisziplinär arbeitende Künstler. Aber muss man nicht ein bisschen verrückt sein, wenn man die Dinge in Bewegung bringen, sie verrücken will? Kunst ist für Maurice de Martin nicht etwas, das zwingend in einem abgeschlossenen Raum, erhöht auf einer Bühne, für ein zahlendes Publikum stattfindet. Kunst ist öffentlich, angreifbar und in ständiger Bewegung, und die Kunst von Maurice de Martin bewegt sich auf die Menschen zu.
Kratzen am Klischee
Eigentlich ist Maurice de Martin Musiker. Unter anderem ist er seit 17 Jahren Schlagzeuger bei Zeitkratzer, dem Berliner Kult-Ensemble für experimentelle Musik. Zeitkratzer kratzt an Klischees, an vorgefassten Meinungen darüber, was Hochkultur, was Unterhaltungskultur sein soll. Allein schon die Zusammensetzung zeigt, dass hier die Genre-Grenzen sehr durchlässig sind: Da gibt es Musiker, die können keine Noten lesen, da gibt es reine Improvisatoren, klassische Streicher, Jazzmusiker, da sind Musiker dabei, die aus der Pop-Elektronik kommen oder aus der Clubszene.
Mit ihren Projekten geben die Zeitkratzer keine Antworten, sondern sie stellen sich selbst und ihrem Publikum neugierig Fragen. Zum Beispiel: Was passiert, wenn wir Lou Reeds Gitarren-Feedback-Orgie «Metal Machine Music» auf akustischen Instrumenten wiedergeben? Gelingt es uns, den elektronischen Effekt und auch die ungeheure Energie des Feedbacks mit diesen Mitteln zu reproduzieren? Nachzuhören ist das Experiment auf der neuen, 56. CD von Zeitkatzer.
Auch von Arnold Schönbergs «Pierrot Lunaire», diesem Klassiker des frühen 20. Jahrhunderts, haben Zeitkratzer nicht die Finger gelassen. Hier hat sich das Ensemble die Frage gestellt: Was passiert mit dem Melodram, wenn wir die Tonhöhen in Schönbergs Partitur nicht so wichtig nehmen, dafür die musikalische Geste deutlich zeigen? Wie er das genau meint, demonstriert Maurice de Martin an der Musik des Schönberg-Schülers Anton Webern.
Bitte Fensterputzen!
Maurice de Martin ist also ein Fragensteller und einer, der die eigene Perspektive auf die Kunst gerne etwas verrückt. Vor einiger Zeit hat er sich entschlossen, die Musik beiseite zu schieben, um sich als transdisziplinär arbeitender Künstler noch stärker mit gesellschaftlichen und politischen Themen auseinanderzusetzen.
Dabei bewegt er sich in sozial-kontroversen Kontexten und löst mit seinen Projekten intensive Dialoge zwischen den Künsten, Wissenschaften, der Politik, der Wirtschaft und den «Experten des Alltags» aus. Seine Projekte «Maurice ist da!» und die «Temporäre Kunstakademie Mahrzahn» in Deutschlands grösstem Plattenbauviertel und sozialen Brennpunkt Berlin-Marzahn hat europaweit Anerkennung erfahren.
Maurice de Martin zelebriert in diesen Projekten die Kunst der Begegnung. So hat er den Menschen, die in Berlin Marzahn leben, nicht einfach mitten in ihren Lebensraum ein fertiges Kunstwerk gestellt, das mit den Leuten dort nichts zu tun hat. Stattdessen hat er erst mal gefragt: «Was wünscht ihr euch von mir?». Und das war dann eben Fenster putzen, Füsse massieren, ein künstlerisches Fussballtraining oder das Dichten eines Heiratsantrags. Bei den Begegnungen während dieser Alltagsaktivitäten haben sich viele Gespräche über Sinn und Relevanz von Kunst ergeben, und manch ein Marzahner Bürger hat dabei seine eigenen künstlerischen Impulse entdeckt.
Wir sind die Künstler
Mit dem Material, das sich aus der Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort und während der «Temporären Kunstakademie Mahrzahn» ergeben hat, hat Maurice de Martin schliesslich in der Marzahner Galerie M eine Ausstellung konzipiert.
Die Ausstellung mit dem Titel «WIR sind die (!) Künstler – Zeitgenössische Kunst von Nachbarn für Nachbarn» hat nicht nur die Vernissageroutiniers neugierig gemacht, sondern vor allem eben auch jene Bewohner von Marzahn, die sich sonst nicht unbedingt Kunst in Galerien anschauen. Denn in de Martins Ausstellung haben sie ihren eigenen Alltag wiedergespiegelt gesehen, in einem anderen Licht, aus einer anderen Perspektive, sorgfältig, respektvoll und kunstvoll konzipiert. So wird Kunst auf einmal etwas real Erfahrbares, etwas, das mit jedem Einzelnen zu tun hat.
Maurice de Martin hat mit seiner bedingungslosen Präsenz vor Ort das Interesse an Kunst aus den Menschen herausgekitzelt und ihnen gezeigt: Auch du bist ein Künstler. Und das ist grosse Kunst.